Winesburg, Ohio (German Edition)
zehn Jahren in dieser Stadt hat Gott sich mir in dem Körper einer Frau offenbart.» Er senkte die Stimme und flüsterte:«Ich habe es nicht verstanden», sagte er. «Was
ich für eine Prüfung meiner Seele hielt, war nur eine Vorbereitung auf eine neue und noch schönere Glut des Geistes. Gott ist mir in Gestalt Kate Swifts, der Lehrerin, erschienen, sie kniete nackend auf dem Bett. Kennen Sie Kate Swift? Es mag ihr nicht bewusst sein, doch sie ist ein Werkzeug Gottes, sie überbringt die Botschaft der Wahrheit.»
Pfarrer Curtis Hartman machte kehrt und rannte aus dem Büro. An der Tür blieb er stehen, und nachdem er in beide Richtungen der verlassenen Straße geblickt hatte, drehte er sich noch einmal zu George Willard um. «Ich bin erlöst. Fürchte dich nicht.» Er hielt eine blutige Faust hoch, damit der junge Mann sie sehen konnte. «Ich habe die Fensterscheibe eingeschlagen», rief er. «Jetzt wird sie ganz ersetzt werden müssen. Die Kraft Gottes war in mir, und ich habe sie mit der Faust zerbrochen.»
DIE LEHRERIN
Der Schnee lag hoch auf den Straßen Winesburgs. Es hatte gegen zehn Uhr vormittags angefangen zu schneien, dann kam Wind auf und blies den Schnee in Wolken die Main Street entlang. Die gefrorenen Matschstraßen, die in die Stadt führten, waren ziemlich glatt, an manchen Stellen bedeckte Eis den Matsch. «Da kann man gut Schlitten fahren», sagte Will Henderson, der in Ed Griffiths Saloon an der Theke stand. Beim Verlassen des Saloons stieß er auf Sylvester West, den Drogisten, der in schweren, arctics genannten Überschuhen dahinstapfte. «Der Schnee wird die Leute am Samstag in die Stadt führen», sagte der Drogist. Die beiden Männer blieben stehen und besprachen ihre Angelegenheiten. Will Henderson, der einen leichten Mantel und keine Überschuhe trug, trat mit der Spitze des rechten Fußes gegen die Ferse des linken. «Der Schnee wird dem Weizen guttun», bemerkte der Drogist weise.
Der junge George Willard war froh, dass er nichts zu tun hatte, weil ihm an dem Tag nicht nach Arbeit zumute war. Das Wochenblatt war Mittwochabend gedruckt und zum Postamt gebracht worden, und am Donnerstag begann es zu schneien. Um acht Uhr, der Frühzug war gerade durchgefahren, steckte er ein Paar
Schlittschuhe in die Tasche und ging zum Teich des Wasserwerks, fuhr aber nicht. Er passierte den Teich und ging einen Pfad entlang, der dem Wine Creek folgte, bis er an einen Buchenhain gelangte. Dort schichtete er bei einem Baumstamm ein Feuer auf und setzte sich ans Ende des Stammes, um nachzudenken. Als dann der Schnee fiel und der Wind blies, lief er umher, um Brennholz für das Feuer zu sammeln.
Der junge Reporter dachte an Kate Swift, die einstmals seine Lehrerin gewesen war. Am Abend davor war er zu ihr gegangen, um ein Buch abzuholen, das sie ihm ans Herz gelegt hatte, und war eine Stunde lang allein mit ihr gewesen. Zum vierten oder fünften Mal hatte die Frau in großem Ernst mit ihm geredet, und er konnte nicht erkennen, was sie mit ihren Worten bezweckte. Er glaubte zunehmend, dass sie womöglich in ihn verliebt war, und dieser Gedanke war angenehm und lästig zugleich.
Er sprang von dem Stamm auf und häufte Äste auf das Feuer. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass er allein war, redete er laut und tat dabei, als wäre die Frau bei ihm. «Ach, Sie tun doch nur so, das wissen Sie genau», verkündete er. «Ich komme schon noch dahinter. Warten Sie’s ab.»
Der junge Mann stand auf und ging den Pfad Richtung Stadt zurück; das Feuer im Wald ließ er lodern. Auf dem Weg durch die Straßen klirrten die Schlittschuhe in seiner Tasche. In seinem Zimmer im «New Willard House» machte er Feuer im Ofen und legte sich aufs Bett. Lüsterne Gedanken überfielen ihn, er rollte die Jalousie am Fenster herab, schloss die Augen
und drehte das Gesicht zur Wand. Er nahm ein Kissen in die Arme und umschlang es, wobei er zuerst an die Lehrerin dachte, die mit ihren Worten etwas in ihm geweckt hatte, und danach an Helen White, die schlanke Tochter des Bankiers der Stadt, in die er schon seit Langem halb verliebt war.
Um neun Uhr an jenem Abend lag der Schnee hoch auf den Straßen, und es war bitterkalt geworden. Das Herumlaufen fiel schwer. Die Geschäfte waren dunkel, und die Leute hatten sich in ihre Häuser verkrochen. Der Abendzug aus Cleveland hatte schon einige Verspätung, doch niemand interessierte sich für seine Ankunft. Um zehn Uhr lagen bis auf vier alle achtzehnhundert Bürger der Stadt im
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