Winesburg, Ohio (German Edition)

werde er der Sünde wirklich nachgeben. «Ich will die Frau ansehen und daran denken, wie ich sie auf die Schultern küsse, und ich werde mich denken lassen, was ich will», erklärte er bitter, und Tränen traten ihm in die Augen. Er dachte, er werde das Pfarrerdasein aufgeben und es mit einem anderen Lebensweg versuchen. «Ich werde in eine Stadt gehen und ein Geschäft gründen», erklärte er. «Wenn meine Natur so beschaffen ist, dass ich der Sünde nicht widerstehen kann, dann werde ich mich auch der Sünde hingeben. Zumindest werde ich kein Heuchler sein, das Wort Gottes predigen und dabei an Schultern und Hals einer Frau denken, die mir nicht gehört.»
    Es war kalt im Raum des Glockenturms der Kirche in jener Nacht im Januar, und beinahe schon beim Betreten des Raums wusste Curtis Hartman, er würde krank werden, sollte er dort bleiben. Seine Füße waren vom Stapfen durch den Schnee nass, und es gab kein Feuer. In dem Zimmer im Nachbarhaus war Kate Swift noch nicht erschienen. Mit grimmiger Entschlossenheit setzte sich der Mann, um zu warten. Da saß er auf seinem Stuhl, hielt sich am Rand des Schreibtischs, auf dem die Bibel lag, fest und starrte mit den düstersten Gedanken seines Lebens in das Dunkel. Er dachte an seine Frau, und einen Augenblick lang hasste er sie fast. «Sie hat sich immer der Leidenschaft geschämt und mich betrogen», dachte er. «Der Mann hat das Recht, von einer Frau tätige Leidenschaft und Schönheit
zu erwarten. Er hat nicht das Recht zu vergessen, dass er ein Tier ist, und in mir ist etwas Griechisches. Ich werde mir die Frau vom Busen reißen und andere Frauen suchen. Ich werde diese Lehrerin bedrängen. Ich werde allen Männern trotzen, und wenn ich ein Wesen fleischlicher Gelüste bin, so werde ich von nun an für meine Gelüste leben.»
    Der verstörte Mann zitterte von Kopf bis Fuß, teils von der Kälte, teils von dem Kampf, der in ihm tobte. Stunden vergingen, und ein Fieber überfiel seinen Körper. Er bekam Halsweh, und seine Zähne klapperten. Seine Füße auf dem Boden des Studierzimmers waren wie zwei Eisblöcke. Dennoch gab er nicht auf. «Ich werde diese Frau sehen und die Gedanken denken, die zu denken ich nie gewagt habe», sagte er zu sich, hielt sich an der Schreibtischkante fest und wartete.
    Curtis Hartman kam von den Folgen jener Nacht des Wartens in der Kirche dem Tode nahe, auch fand er in dem, was dort geschah, was er für seinen Lebensweg hielt. An anderen Abenden, an denen er wartete, hatte er durch das kleine Loch in der Scheibe allein den Teil des Zimmers der Lehrerin sehen können, der von ihrem Bett eingenommen war. Im Dunkel hatte er gewartet, bis die Frau plötzlich in ihrem weißen Nachtgewand aufrecht im Bett saß. Als das Licht aufgedreht wurde, lehnte sie sich an die Kissen und las ein Buch. Manchmal rauchte sie eine Zigarette. Nur ihre bloßen Schultern und der Hals waren sichtbar.
    An dem Januarabend, er war fast erfroren und sein Geist gar in ein eigentümliches Phantasiereich abgeglitten, sodass er sich durch eine Übung der Willenskraft
ins Bewusstsein hatte zurückzwingen müssen, erschien Kate Swift. Im Nebenraum wurde eine Lampe entzündet, und der Wartende starrte auf ein leeres Bett. Dann warf sich vor seinen Augen auf das Bett eine nackte Frau. Mit dem Gesicht nach unten lag sie da und weinte und schlug mit den Fäusten auf das Kissen. Ein letztes Mal schluchzend, richtete sie sich halb auf, und in Gegenwart des Mannes, der darauf gewartet hatte, zu schauen und Gedanken zu denken, begann die Frau der Sünde zu beten. Im Schein der Lampe wirkte ihre feste und kräftige Gestalt wie die des Jungen neben dem leibhaftigen Christus auf dem Bleiglasfenster.
    Curtis Hartman sollte sich nie daran erinnern, wie er die Kirche verließ. Mit einem Schrei fuhr er auf und zog den schweren Schreibtisch über den Fußboden. Die Bibel fiel, machte in der Stille ein lautes Getöse. Als das Licht im Nachbarhaus verlosch, taumelte er die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Er lief die Straße entlang und stürmte durch die Tür des «Winesburg Eagle». Auf George Willard, der in seinem Büro auf und ab stapfte und einen eigenen Kampf ausfocht, redete er weitgehend zusammenhanglos ein. «Die Wege des Herrn übersteigen das menschliche Verständnis», rief er, indem er schnell hineinlief und die Tür schloss. Mit glühenden Augen und inbrünstiger Stimme schritt er auf den jungen Mann zu. «Ich habe die Erleuchtung gefunden», rief er. «Nach