Winesburg, Ohio (German Edition)
Bett.
Hop Higgins, der Nachtwächter, war immer wieder wach. Er hinkte und hatte einen schweren Stock bei sich. In dunklen Nächten trug er eine Laterne. Zwischen neun und zehn Uhr machte er seine Runde. Die Main Street auf und ab stolperte er durch die Schneewehen, prüfte die Türen der Geschäfte. Dann ging er in die Gassen und prüfte die Hintertüren. Nachdem er alles verschlossen vorgefunden hatte, eilte er um die Ecke zum «New Willard House» und schlug an die Tür. Während der verbleibenden Nacht wollte er dort am Ofen sitzen. «Geh du zu Bett. Ich halte den Ofen am Laufen», sagte er zu dem Jungen, der auf einer Pritsche im Hotelbüro schlief.
Hop Higgins setzte sich an den Ofen und zog die Schuhe aus. Als der Junge eingeschlafen war, dachte er über seine eigenen Angelegenheiten nach. Er beabsichtigte, im Frühjahr sein Haus zu streichen, und
dort am Ofen berechnete er nun die Kosten für Farbe und Arbeit. Das führte ihn zu anderen Berechnungen. Der Nachtwächter war sechzig Jahre alt und wollte sich zur Ruhe setzen. Er war Soldat im Bürgerkrieg gewesen und bezog eine kleine Rente. Er hoffte, seinen Lebensunterhalt auf andere Weise zu verdienen, und strebte eine Existenz als professioneller Frettchenzüchter an. Im Keller seines Hauses hatte er schon vier der merkwürdig geformten kleinen wilden Tiere, die von Jägern bei der Jagd nach Kaninchen eingesetzt werden. «Jetzt habe ich ein Männchen und drei Weibchen», sinnierte er. «Mit etwas Glück habe ich im Frühjahr zwölf oder fünfzehn. Nach einem weiteren Jahr kann ich dann in den Jagdblättern Anzeigen zum Verkauf von Frettchen schalten.»
Der Nachtwächter rückte sich auf seinem Stuhl zurecht, und sein Kopf wurde leer. Er schlief nicht. Während vieler Jahre hatte er geübt, lange Nächte hindurch stundenlang weder zu schlafen noch zu wachen. Am Morgen war er dann fast so erfrischt, als hätte er geschlafen.
Da Hop Higgins nun sicher auf dem Stuhl hinterm Ofen verstaut war, wachten noch drei Menschen in Winesburg. George Willard saß in der Redaktion des «Eagle» und tat, als schriebe er an einer Geschichte, in Wahrheit aber hing er der Stimmung vom Vormittag am Feuer im Wald nach. Im Glockenturm der presbyterianischen Kirche saß Pfarrer Curtis Hartman im Dunkeln und bereitete sich auf eine Offenbarung Gottes vor, und Kate Swift, die Lehrerin, verließ das Haus, um im Sturm spazieren zu gehen.
Es war nach zehn Uhr, als Kate Swift sich auf den Weg machte, und der Spaziergang war ungeplant. Es war, als hätten der Mann und der Junge, indem sie an sie dachten, sie auf die winterlichen Straßen getrieben. Tante Elizabeth Swift war wegen einiger Erledigungen bezüglich eines Baukredits, in den sie einiges Geld investiert hatte, in die Bezirkshauptstadt gefahren und wollte erst am nächsten Tag zurück sein. Im Wohnzimmer des Hauses saß an einem riesigen Ofen, Füllofen genannt, die Tochter und las ein Buch. Plötzlich sprang sie auf, riss einen Mantel vom Ständer an der Wohnungstür und lief aus dem Haus.
Mit ihren dreißig Jahren galt Kate Swift in Winesburg nicht gerade als hübsche Frau. Ihr Teint war nicht gut, und ihr Gesicht war mit Flecken überzogen, die auf einen schlechten Gesundheitszustand hindeuteten. Allein in der Nacht auf den winterlichen Straßen war sie schön. Ihr Rücken war gerade, die Schultern kantig, und ihre Züge waren die einer kleinen Göttin auf einem Podest in einem Garten im matten Licht eines Sommerabends.
Am Nachmittag war die Lehrerin wegen ihrer Gesundheit bei Doktor Welling gewesen. Der Doktor hatte sie gescholten und erklärt, sie laufe Gefahr, das Gehör zu verlieren. Es sei töricht von Kate Swift, draußen im Sturm herumzulaufen, töricht und vielleicht auch gefährlich.
Die Frau auf der Straße entsann sich der Worte des Arztes nicht und wäre auch nicht umgekehrt, hätte sie es getan. Ihr war sehr kalt, doch nachdem sie fünf Minuten gegangen war, störte die Kälte sie nicht mehr.
Erst ging sie ans Ende ihrer Straße und dann vorbei an ein paar Heuwaagen, die vor einer Futterscheune in die Fahrbahn des Trunion Pike eingelassen waren. Über den Trunion Pike ging sie zu Ned Winters’ Scheune, wo sie nach Osten in eine Straße mit niedrigen Farmhäusern bog, die über den Gospel Hill führte, und dann in die Sucker Road, die durch ein flaches Tal vorbei an Ike Smeads Hühnerfarm zum Teich des Wasserwerks lief. Im Gehen verflog die kühne Erregung, die sie aus dem Haus getrieben hatte, doch dann
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