Winesburg, Ohio (German Edition)
einen Protest gegen sein Leben hinaus, gegen alles Leben, gegen alles, was das Leben hässlich macht. «Es wurde nichts versprochen», rief er in den leeren Raum um ihn herum. «Ich habe meiner Minnie nichts versprochen, und Hal hat Nell ebenfalls nichts versprochen. Das weiß ich. Sie ging mit ihm in den Wald, weil sie es wollte. Was er wollte, wollte auch sie. Warum soll ich bezahlen? Warum soll Hal bezahlen? Warum soll überhaupt jemand bezahlen? Ich will nicht, dass Hal alt und verschlissen wird. Das werde ich ihm sagen. Das geht so nicht weiter. Ich hole Hal ein, bevor er die Stadt erreicht, und sage ihm das.»
Ray rannte schwerfällig, und einmal stolperte er und schlug hin. «Ich muss Hal einholen und es ihm sagen», dachte er immerzu, und obwohl sein Atem keuchend ging, rannte er immer noch schneller. Beim Rennen dachte er an Dinge, die ihm seit Jahren nicht mehr in den Sinn gekommen waren – wie er zur Zeit seiner Heirat geplant hatte, nach Westen zu seinem Onkel in Portland, Oregon, zu gehen – wie er kein Knecht hatte sein wollen, sondern geglaubt hatte, wenn er im Westen sei, würde er zur See fahren und Matrose werden oder eine Stellung auf einer Ranch bekommen und auf einem Pferd durch Städte im Westen reiten und schreien und lachen und die Leute in den Häusern mit seinem wilden Gebrüll wecken. Dann dachte er, wie er dahinrannte, an seine Kinder und bildete sich ein, ihre Hände griffen nach ihm. Alle seine Gedanken über sich vermengten sich mit denen über Hal, und er dachte, die Kinder griffen auch nach dem jüngeren Mann. «Das sind die Missgeschicke des Lebens, Hal», rief er. «Es sind nicht meine und auch nicht deine. Ich hatte nichts mit ihnen zu tun.»
Dunkelheit breitete sich über den Feldern aus, und Ray rannte immer weiter. Sein Atem kam in kleinen Schluchzern. Als er den Zaun am Rand der Straße erreichte und Hal Winters, aufgeputzt, munter ausschreitend und eine Pfeife rauchend, in den Weg trat, hätte er nicht sagen können, was er dachte oder was er wollte.
Ray Pearson verlor den Mut, und das ist denn auch das Ende der Geschichte von dem, was mit ihm geschah. Es war fast dunkel, als er zum Zaun gelangte,
die Hände auf die oberste Stange legte und schaute. Hal Winters sprang über einen Graben, steckte, auf Ray zugehend, die Hände in die Hosentaschen und lachte. Für ihn schien das, was auf dem Maisfeld geschehen war, keine Bedeutung mehr zu haben, und als er eine kräftige Hand hob und Ray am Revers seines Mantels packte, schüttelte er den alten Mann, wie er einen ungezogenen Hund geschüttelt hätte.
«Du wolltest mir was sagen, wie?», sagte er. «Na, du brauchst mir nichts zu sagen. Ich bin kein Feigling, und ich habe mich schon entschieden.» Wieder lachte er und sprang über den Graben zurück. «Nell ist nicht blöd», sagte er. «Sie hat mich nicht gebeten, sie zu heiraten. Ich will sie heiraten. Ich will häuslich werden und Kinder haben.»
Nun lachte auch Ray Pearson. Ihm war, als lachte er über sich und über die ganze Welt.
Als die Gestalt Hal Winters’ in der Dämmerung verschwand, die über der Straße nach Winesburg lag, machte er kehrt und ging langsam zurück über die Felder bis zu der Stelle, wo er seinen zerschlissenen Mantel zurückgelassen hatte. Dabei kam ihm wohl eine Erinnerung an freundliche Abende mit den dünnbeinigen Kindern in dem baufälligen Haus am Bach in den Sinn, denn er murmelte die Worte: «Es ist schon recht so. Was ich ihm auch erzählt hätte, es wäre gelogen gewesen», sagte er leise, und dann verschwand auch seine Gestalt im Dunkel der Felder.
TRUNKENHEIT
Als Tom Foster aus Cincinnati nach Winesburg kam, war er noch jung und offen für viele neue Eindrücke. Seine Großmutter war auf einer Farm nahe der Stadt groß geworden und als Mädchen dort auf eine Schule gegangen, da war Winesburg noch ein Dorf mit zwölf oder fünfzehn Häusern, die sich um einen Krämerladen am Trunion Pike scharten.
Was für ein Leben die alte Frau geführt hatte, seit sie die Grenzsiedlung verließ, und was für ein starkes, tüchtiges kleines altes Wesen sie doch war! Sie hatte in Kansas gewohnt, in Kanada und in New York, sie war mit ihrem Mann, einem Mechaniker, bis zu seinem Tod umhergereist. Später zog sie zu ihrer Tochter, die ebenfalls einen Mechaniker geheiratet hatte und in Covington, Kentucky, lebte, gegenüber von Cincinnati auf der anderen Flussseite.
Dann begannen für Tom Fosters Großmutter die harten Jahre. Erst wurde ihr
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