Winesburg, Ohio (German Edition)
nun ganz ernst. «Muss man das denn machen?», fragte er. «Muss man denn angeschirrt sein und wie ein Pferd durchs Leben getrieben werden?»
Hal wartete nicht auf eine Antwort, sondern sprang auf und lief zwischen den Maisgarben auf und ab. Er wurde immer aufgeregter. Unvermittelt bückte er sich, hob einen Kolben gelben Maises auf und warf ihn
gegen den Zaun. «Ich hab Nell Gunther ins Unglück gebracht», sagte er. «Ich sag dir das, aber halt ja den Mund.»
Ray erhob sich und sah ihn an. Er war beinahe einen Fuß kleiner als Hal, und als der junge Mann dem älteren beide Hände auf die Schultern legte, gaben sie ein hübsches Bild ab. Da standen sie auf dem leeren Feld, die stillen Maisgarben in Reihen hinter ihnen und in der Ferne die roten und gelben Hügel, und eben noch zwei gleichgültige Arbeiter, hatten sie nun beide ein offenes Ohr füreinander. Das spürte Hal, und deswegen lachte er auch. «Na, alter Daddy», sagte er verlegen, «komm schon, gib mir einen Rat. Ich hab Nell ins Unglück gebracht. Vielleicht warst du auch schon mal in so einer Klemme. Ich weiß, was alle als das Richtige bezeichnen würden, aber was sagst du? Soll ich heiraten und häuslich werden? Soll ich mich anschirren lassen und verschlissen werden wie ein altes Pferd? Du kennst mich ja, Ray. Mich kann keiner brechen, nur ich selbst. Soll ich es tun oder Nell sagen, sie soll zum Teufel gehen? Komm schon, sag’s mir. Was du auch sagst, Ray, ich tu’s.»
Ray konnte ihm nicht antworten. Er schüttelte Hal schlaff die Hand und ging geradewegs in Richtung Scheune. Er war ein empfindsamer Mann, und er hatte Tränen in den Augen. Er wusste, es gab nur eines, was er Hal Winters, dem Sohn des alten Windpeter Winters, sagen konnte, nur eines, was seine ganze Erziehung und die Überzeugungen all der Leute, die er kannte, gutheißen würden, aber um sein Leben konnte er nicht sagen, was er, wie er wusste, sagen sollte.
Um halb fünf an jenem Nachmittag werkelte Ray auf dem Hof herum, als seine Frau den Weg am Bach entlang auf ihn zu kam und ihn rief. Nach dem Gespräch mit Hal war er nicht mehr auf das Maisfeld zurückgekehrt, sondern hatte auf dem Hof gearbeitet. Er hatte seine abendlichen Pflichten schon erledigt und auch gesehen, wie Hal, aufgeputzt und bereit für eine Zechtour durch die Stadt, aus dem Farmhaus trat und zur Straße ging. Den Weg zu seinem Haus entlang stapfte er nun hinter seiner Frau her, den Blick zu Boden gesenkt und nachdenklich. Er kam nicht dahinter, was faul war. Jedes Mal, wenn er den Blick hob und die Schönheit der Landschaft in dem schwindenden Licht sah, wollte er etwas tun, was er noch nie getan hatte, schreien oder brüllen oder seine Frau mit den Fäusten schlagen oder etwas gleichermaßen Unerwartetes und Schreckliches. Den ganzen Weg kratzte er sich am Kopf und versuchte, dahinterzukommen. Er schaute prüfend auf den Rücken seiner Frau, doch mit ihr schien alles in Ordnung zu sein.
Sie wollte nur, dass er in die Stadt fuhr, Lebensmittel kaufen, und kaum hatte sie ihm gesagt, was sie wollte, schalt sie ihn auch schon. «Immer werkelst du herum», sagte sie. «Nun schaff einmal etwas her. Im Haus ist nichts zum Abendessen, du musst in die Stadt und schnell wieder hier sein.»
Ray ging in sein Haus und nahm einen Mantel vom Haken an der Tür. Er war an den Taschen eingerissen, und der Kragen glänzte. Seine Frau ging ins Schlafzimmer und kam schließlich mit einem verschmutzten Tuch in der einen und drei Silberdollar in der anderen
Hand heraus. Irgendwo im Haus weinte bitterlich ein Kind, und ein Hund, der am Herd geschlafen hatte, erhob sich und gähnte. Wieder schalt die Frau. «Die Kinder weinen und weinen. Warum werkelst du immer nur herum?», fragte sie.
Ray verließ das Haus und stieg über einen Zaun auf ein Feld. Es wurde gerade dunkel, und ihm bot sich ein herrliches Bild. Die niedrigen Hügel waren alle mit Farben getuscht, und selbst die kleinen Buschgruppen in den Zaunecken waren erfüllt von Schönheit. Die ganze Welt schien Ray Pearson von etwas erfüllt zu sein, so wie er und Hal plötzlich voneinander erfüllt gewesen waren, als sie auf dem Maisfeld standen und einander in die Augen sahen.
Die Schönheit des Landes um Winesburg war zu viel für Ray an jenem Herbstabend. Das heißt, alles, was damit verbunden war. Er ertrug es nicht. Auf einmal vergaß er, dass er ein stiller alter Knecht war; er warf den zerschlissenen Mantel von sich und rannte übers Feld. Im Rennen schrie er
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