Winesburg, Ohio (German Edition)
Schwiegersohn während eines Streiks von einem Polizisten getötet, dann wurde Toms Mutter krank und starb ebenfalls. Die Großmutter hatte ein wenig Geld gespart, doch das wurde von der Krankheit der Tochter und den Kosten für die beiden Begräbnisse aufgezehrt. Recht verschlissen und alt, wurde sie zur Arbeiterin und lebte mit dem
Enkel über einem Trödelladen in einer Nebenstraße in Cincinnati. Fünf Jahre lang schrubbte sie in einem Bürogebäude die Böden und bekam dann eine Stelle als Tellerwäscherin in einem Restaurant. Ihre Hände waren ganz krumm und verwachsen. Hielt sie einen Mopp oder einen Besenstiel, sahen die Hände aus wie die vertrockneten Stängel einer alten Kriechpflanze, die sich an einen Baum klammerte.
Die alte Frau kehrte nach Winesburg zurück, sobald sich die Gelegenheit bot. Eines Abends, als sie von der Arbeit nach Hause lief, fand sie eine Brieftasche mit siebenunddreißig Dollar, und das machte den Weg frei. Für den Jungen bedeutete die Fahrt ein großes Abenteuer. Es war nach sieben Uhr abends, als die Großmutter nach Hause kam, die Brieftasche fest in ihren alten Händen, und so aufgeregt war sie, dass sie kaum sprechen konnte. Sie bestand darauf, noch in der Nacht Cincinnati zu verlassen, und meinte, bliebe sie bis zum Morgen, werde der Besitzer des Geldes sie bestimmt aufspüren und Ärger machen. Tom, der damals sechzehn Jahre alt war, musste mit der alten Frau zum Bahnhof trotten, auf dem Rücken, eingepackt in eine alte, abgewetzte Decke, ihre gesamte irdische Habe. Neben ihm schritt die Großmutter und trieb ihn voran. Ihr zahnloser alter Mund zuckte nervös, und als Tom an einer Straßenkreuzung müde wurde und den Packen absetzen wollte, nahm sie ihn, und wenn er es nicht verhindert hätte, hätte sie ihn selbst geschultert. Als sie im Zug saßen und der aus der Stadt gefahren war, freute sie sich wie ein kleines Mädchen und redete, wie der Junge sie noch nie zuvor hatte reden hören.
Die ganze Nacht hindurch, während der Zug dahinratterte, erzählte die Großmutter Tom Geschichten von Winesburg und wie ihm das Leben dort gefallen werde, wenn er auf dem Feld arbeite und in den Wäldern dort wilde Tiere schieße. Sie konnte nicht glauben, dass das kleine Dorf von vor fünfzig Jahren während ihrer Abwesenheit zu einer blühenden Stadt herangewachsen war, und wollte, als der Zug am Morgen in Winesburg einfuhr, gar nicht aussteigen. «Es ist nicht das, was ich dachte. Es könnte hier hart für dich werden», sagte sie, und dann fuhr der Zug weiter, und verwirrt und ohne zu wissen, wohin sie sollten, standen die beiden neben Albert Longworth, dem Gepäckmeister von Winesburg.
Doch Tom Foster kam ganz gut zurecht. Einer wie er kam überall zurecht. Mrs White, die Frau des Bankiers, gab seiner Großmutter eine Anstellung in der Küche, und er bekam Arbeit als Stallbursche in der neuen Backsteinscheune des Bankiers.
In Winesburg waren Bediente rar. Eine Frau, die Hilfe im Haus wollte, stellte eine «Dienstmagd» ein, die darauf bestand, mit der Familie am Tisch zu sitzen. Mrs White hatte Dienstmägde satt und nutzte die Gelegenheit, sich der alten Stadtfrau zu versichern. Oben in der Scheune richtete sie ein Zimmer für den jungen Tom ein. «Er kann den Rasen mähen und Botengänge erledigen, wenn die Pferde keiner Aufmerksamkeit bedürfen», erklärte sie ihrem Mann.
Tom Foster war für sein Alter ziemlich klein, hatte einen großen Kopf und störrisches schwarzes Haar, das aufrecht nach oben stand. Das Haar betonte noch
die Größe seines Kopfs. Seine Stimme war so leise, wie man sie sich nur vorstellen kann, und er selbst so sanft und still, dass er in das Leben der Stadt hineinschlüpfte, ohne die mindeste Aufmerksamkeit zu erregen.
Man fragte sich unwillkürlich, wo Tom Foster diese Sanftheit wohl herhatte. In Cincinnati hatte er in einem Viertel gewohnt, in dessen Straßen sich Banden junger Raufbolde herumtrieben, und seine ganzen frühen prägenden Jahre hindurch war er mit Raufbolden umhergezogen. Eine Zeit lang war er Botenjunge bei einer Telegraphengesellschaft gewesen und hatte Nachrichten in einem Viertel überbracht, das mit Bordellen durchsetzt war. Die Frauen dieser Häuser kannten und mochten Tom Foster, und auch die Raufbolde der Banden mochten ihn.
Nie konnte er sich behaupten. Auch deswegen kam er immer davon. Auf eine seltsame Weise stand er an der Schattenwand des Lebens, dort zu stehen war seine Bestimmung. Er sah die Männer und Frauen in den
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