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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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Freudenhäusern, spürte ihre flüchtigen und grässlichen Liebesaffären, sah Jungen kämpfen und hörte sich ihre Geschichten von Diebstählen und Trunksucht an, unbewegt und seltsam unberührt.
    Einmal stahl Tom. Da lebte er noch in der Stadt. Die Großmutter war krank, und er hatte keine Arbeit. Im Haus gab es nichts zu essen, also ging er in einen Laden für Pferdegeschirr in einer Seitenstraße und stahl aus der Ladenkasse einen Dollar und fünfundsiebzig Cent.
    Der Geschirrladen wurde von einem alten Mann mit einem großen Schnurrbart betrieben. Er sah den Jungen herumlungern und dachte sich nichts dabei. Als
er auf die Straße trat, um sich mit einem Fuhrmann zu unterhalten, öffnete Tom die Kasse und nahm das Geld heraus. Später wurde er gefasst, und seine Großmutter legte die Sache bei, indem sie sich erbot, einen Monat lang zweimal wöchentlich zu kommen und den Laden zu putzen. Der Junge schämte sich, aber er war auch ganz froh. «Es ist gut, sich zu schämen, dadurch lerne ich neue Sachen verstehen», sagte er zur Großmutter, die nicht wusste, was der Junge damit sagen wollte, ihn aber so sehr liebte, dass es egal war, ob sie ihn verstand oder nicht.
    Ein Jahr lang lebte Tom Foster im Stall des Bankiers, dann verlor er seine Stellung dort. Er pflegte die Pferde nicht besonders gut, und für die Frau des Bankiers war er ein beständiger Quell der Verärgerung. Sie trug ihm auf, den Rasen zu mähen, und er vergaß es. Dann schickte sie ihn zum Laden oder zum Postamt, und er kam nicht zurück, sondern schloss sich einer Gruppe Männer und Jungen an und verbrachte den ganzen Nachmittag mit ihnen, stand herum, hörte zu und sagte gelegentlich, wenn er angesprochen wurde, auch einmal ein paar Worte. Wie in der Stadt in den Bordellen und bei den großen Burschen, mit denen er nachts durch die Straßen zog, hatte er, auch was Winesburg und seine Bewohner betraf, stets die Kraft, Teil des Lebens um ihn herum und dennoch völlig davon gelöst zu sein.
    Nachdem Tom seine Stellung bei Bankier White verloren hatte, lebte er nicht mehr bei seiner Großmutter, obwohl sie ihn abends oft besuchen kam. Er mietete sich ein Zimmer an der Hinterseite eines kleinen Holzhauses,
das dem alten Rufus Whiting gehörte. Das Gebäude stand in der Duane Street, nahe der Main Street, und wurde von dem Alten, der zu schwach und vergesslich geworden war, um seinen Beruf weiter auszuüben, aber seine Unfähigkeit nicht erkannte, seit Jahren als Anwaltsbüro genutzt. Er mochte Tom und überließ ihm das Zimmer für einen Dollar im Monat. Spätnachmittags, wenn der Anwalt nach Hause gegangen war, hatte der Junge das Haus für sich und verbrachte Stunden damit, auf dem Fußboden zu liegen und über Dinge nachzudenken. Abends kam die Großmutter, setzte sich auf den Anwaltsstuhl und rauchte eine Pfeife, und Tom schwieg, wie er es immer bei allen tat.
    Häufig redete die Großmutter mit großer Heftigkeit. Manchmal war sie zornig über etwas, was im Haus des Bankiers geschehen war, dann schimpfte sie stundenlang. Von ihrem eigenen Lohn kaufte sie einen Mopp und wischte regelmäßig das Büro des Anwalts. Wenn es dann makellos sauber war und auch sauber roch, zündete sie ihre Tonpfeife an und teilte sie mit Tom. «Wenn du bereit bist zu sterben, werde auch ich sterben», sagte sie zu dem Jungen, der neben ihrem Stuhl auf dem Fußboden lag.
    Tom Foster gefiel das Leben in Winesburg. Er führte Gelegenheitsarbeiten aus wie Holz für Küchenherde hacken und vor Häusern Rasen mähen. Ende Mai und Anfang Juni pflückte er auf den Feldern Erdbeeren. Er hatte Zeit zu faulenzen, und er faulenzte gern. Bankier White hatte ihm eine abgelegte Jacke geschenkt, die ihm zu groß war, doch seine Großmutter machte sie
enger, auch einen Mantel hatte er, ebenfalls von dort, mit Pelz gefüttert. Der Pelz war an manchen Stellen abgewetzt, aber der Mantel war warm, und im Winter schlief Tom darin. Er fand, dass er ganz ordentlich zurechtkam und war glücklich und zufrieden darüber, wie das Leben in Winesburg sich für ihn entwickelt hatte.
    Die absurdesten Kleinigkeiten machten Tom Foster glücklich. Deshalb mochten ihn die Leute vermutlich auch. In Herns Lebensmittelladen wurde Freitagnachmittag in Vorbereitung auf den samstäglichen Kundenansturm Kaffee geröstet, und der üppige Duft strömte auf die untere Main Street. Tom Foster tauchte auf und setzte sich hinten im Laden auf eine Kiste. Eine Stunde lang regte er sich nicht, sondern saß vollkommen

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