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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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erklärte er. «Verstehst du das nicht? Das, was ich getan habe, hat mich verletzt, und nun ist alles sonderbar. Deshalb habe ich’s getan. Ich bin froh darüber. Es hat mich etwas gelehrt, so ist das, das habe ich gewollt. Verstehst du nicht? Ich wollte doch nur etwas lernen. Deshalb habe ich’s getan.»

TOD
    Die Treppe, die zu Doktor Reefys Praxis im Heffner-Block über der Kurzwarenfirma «Paris» führte, war nur matt erhellt. Oben an der Treppe hing eine Lampe mit einem schmutzigen Zylinder, die mittels eines Arms an der Wand befestigt war. Die Lampe hatte einen Blechreflektor, braun von Rost und mit Staub überzogen. Diejenigen, die die Treppe hinaufgingen, folgten mit ihren Füßen denen vieler, die vor ihnen hinaufgegangen waren. Die weichen Bretter der Stufen hatten sich dem Druck der Füße gebeugt, und tiefe Höhlungen bezeichneten den Weg.
    Oben an der Treppe führte eine Drehung nach rechts zur Tür des Arztes. Zur Linken lag ein dunkler Flur voller Gerümpel. Alte Stühle, Holzböcke, Trittleitern und leere Kisten warteten im Dunkeln auf Schienbeine, um sie aufzuscheuern. Das Gerümpel gehörte der Kurzwarenfirma«Paris». Wurde ein Ladentisch oder Regalgestell im Geschäft nicht mehr gebraucht, trugen Verkäufer es die Treppe hinauf und warfen es auf den Haufen.
    Doktor Reefys Praxis war groß wie eine Scheune. Mitten im Raum hockte ein Ofen mit rundem Wanst. Um seinen Sockel herum waren Sägespäne aufgehäuft, die von schweren, an den Fußboden genagelten Planken
gehalten wurden. An der Tür stand ein gewaltiger Tisch, der einst zum Mobiliar von Herricks Bekleidungsgeschäft gehört hatte und zum Ausstellen von maßgeschneiderten Kleidern benutzt worden war. Er war voller Bücher, Flaschen und chirurgischen Instrumenten. An seiner Kante lagen drei, vier Äpfel von John Spaniard, einem Baumzüchter, der Doktor Reefys Freund war und die Äpfel beim Hereinkommen aus der Tasche gezogen hatte.
    Ein Mann mittleren Alters, war Doktor Reefy groß und linkisch. Der graue Bart, den er später trug, war noch nicht zu sehen, stattdessen wuchs auf der Oberlippe ein brauner Schnauzer. Er war kein gefälliger Mann wie in späteren Jahren und stark mit dem Problem beschäftigt, einen Ort für seine Hände und Füße zu finden.
    An Sommernachmittagen, sie war schon viele Jahre verheiratet und ihr Sohn George ein Junge von zwölf oder vierzehn Jahren, ging Elizabeth Willard zuweilen die ausgetretenen Stufen zu Doktor Reefys Praxis hinauf. Die von Natur aus große Gestalt der Frau war schon gebeugt und schleppte sich träge umher. Vorgeblich ging sie aus Gesundheitsgründen zum Arzt, doch bei den halben Dutzend Malen, da sie bei ihm war, betrafen ihre Besuche in erster Linie nicht ihr Wohlbefinden. Auch darüber sprachen sie und der Arzt, vor allem aber über ihr Leben, über ihrer beider Leben und über die Gedanken, die ihnen im Laufe ihres Lebens in Winesburg gekommen waren.
    In der großen, leeren Praxis saßen der Mann und die Frau da und sahen einander an, und sie waren sich in
vielem gleich. Körperlich unterschieden sie sich, ebenso in der Farbe der Augen, der Länge der Nase und den Umständen ihrer Existenz, doch etwas in ihnen wollte dasselbe, suchte dieselbe Erlösung, hätte im Gedächtnis eines Betrachters denselben Eindruck hinterlassen. Später und als er älter wurde und eine junge Frau heiratete, redete der Arzt häufig mit ihr über die Stunden, die er mit der kranken Frau verbracht hatte, und äußerte etliche Dinge, die er Elizabeth gegenüber nicht hatte ansprechen können. Im Alter glich er beinahe einem Dichter, und seine Ansicht über das Geschehene nahm poetische Züge an. «Ich hatte den Lebensabschnitt erreicht, in dem Gebete notwendig sind, und so erfand ich Götter und betete zu ihnen», sagte er. «Ich sprach meine Gebete nicht in Worten, auch kniete ich nicht nieder, sondern saß vollkommen ruhig auf meinem Stuhl. Spätnachmittags, wenn es auf der Main Street heiß und still war, oder im Winter, wenn die Tage trübe waren, kamen die Götter in meine Praxis, und ich glaubte, niemand wisse davon. Dann merkte ich, dass diese Elizabeth doch Bescheid wusste, dass sie dieselben Götter verehrte. Ich habe den Eindruck, dass sie in die Praxis kam, weil sie glaubte, die Götter wären dort, aber gleichwohl war sie froh, dass sie damit nicht allein war. Es war eine Erfahrung, die sich nicht erklären lässt, obwohl ich vermute, dass sie Männern wie Frauen an allen möglichen Orten immer

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