Winesburg, Ohio (German Edition)
wieder zuteilwird.»
An den Sommernachmittagen, an denen Elizabeth und der Arzt in der Praxis saßen und über ihrer beider Leben
sprachen, redeten sie auch über das Leben anderer. Manchmal schuf der Arzt philosophische Epigramme. Dann kicherte er belustigt. Hin und wieder, nach einer Periode des Schweigens, wurde ein Wort gesprochen oder eine Andeutung gemacht, die das Leben des Sprechenden seltsam erhellte, ein Wunsch wurde zum Verlangen, oder ein Traum, halb tot, flammte jäh auf. Meistens kamen die Worte von der Frau, und sie sagte sie, ohne den Mann dabei anzusehen.
Mit jedem Mal, wenn sie den Arzt aufsuchte, sprach die Frau des Hotelbesitzers freier, und nach ein, zwei Stunden bei ihm ging sie die Treppe zur Main Street hinunter und fühlte sich erfrischt und gegen die Trübnis ihrer Tage gewappnet. Mit einem beinahe mädchenhaften Schwung des Körpers ging sie dahin, doch als sie wieder auf ihrem Stuhl am Fenster ihres Zimmers saß und die Dunkelheit hereinbrach und ein Mädchen aus dem Hotel ihr das Essen auf einem Tablett brachte, ließ sie es kalt werden. Ihre Gedanken kehrten zurück in ihre Mädchenzeit und deren leidenschaftlicher Sehnsucht nach Abenteuern, und sie entsann sich der Arme von Männern, die sie gehalten hatten, als Abenteuer für sie noch möglich waren. Besonders an einen erinnerte sie sich, der eine Zeit lang ihr Liebhaber gewesen war und der im Augenblick seiner Leidenschaft über hundertmal aufgeschrien und wie ein Wahnsinniger dieselben Worte immer und immer wieder gerufen hatte: «Du Liebes! Du Liebes! Du Allerliebstes!» Diese Worte, so dachte sie, drückten etwas aus, was sie in ihrem Leben gern erreicht hätte.
In ihrem Zimmer in dem schäbigen alten Hotel
weinte die kranke Frau des Hotelbesitzers und schaukelte, das Gesicht in den Händen, vor und zurück. Die Worte ihres einzigen Freundes Doktor Reefy hallten ihr in den Ohren. «Die Liebe ist wie ein Wind, der in einer schwarzen Nacht das Gras unter den Bäumen bewegt», hatte er gesagt. «Sie dürfen nicht versuchen, die Liebe festzulegen. Sie ist der göttliche Zufall des Lebens. Wenn Sie versuchen, eindeutig zu sein und ihrer sicher zu sein und unter den Bäumen zu leben, wo sanfte Nachtwinde wehen, dann kommt der lange, heiße Tag der Enttäuschung rasch, und der körnige Staub von vorbeifahrenden Wagen sammelt sich auf Lippen, die von Küssen entzündet und empfindlich sind.»
Elizabeth Willard hatte keine Erinnerung an ihre Mutter, die starb, als sie erst fünf Jahre alt war. Ihre Mädchenzeit hatte sie in der denkbar planlosesten Weise verbracht. Ihr Vater war ein Mann, der in Ruhe gelassen werden wollte, doch die Angelegenheiten des Hotels ließen ihn nicht in Ruhe. Auch hatte er als kranker Mann gelebt und war als solcher gestorben. Jeden Tag stand er mit fröhlichem Gesicht auf, doch schon um zehn Uhr am Vormittag war jede Freude aus seinem Herzen gewichen. Beschwerte sich ein Gast über die Kost im Hotel, oder heiratete und kündigte eines der Mädchen, die die Betten machten, stampfte er auf dem Fußboden auf und fluchte. Nachts, wenn er sich schlafen legte, dachte er an seine Tochter, die inmitten des Stroms von Menschen aufwuchs, die im Hotel aus und ein gingen, und war von Traurigkeit überwältigt. Als das Mädchen älter wurde und abends mit Männern ausging, wollte er mit ihr reden, doch
seine Versuche hatten keinen Erfolg. Immer vergaß er, was er hatte sagen wollen, und brachte die Zeit damit zu, über seine eigenen Angelegenheiten zu klagen.
In ihrer Zeit als Mädchen und junge Frau hatte Elizabeth versucht, eine wahre Abenteurerin des Lebens zu sein. Mit achtzehn hatte das Leben sie so gepackt, dass sie nicht mehr Jungfrau war, doch obwohl sie vor ihrer Ehe mit Tom Willard schon ein halbes Dutzend Liebhaber gehabt hatte, hatte sie sich nie einzig wegen des Begehrens auf ein Abenteuer eingelassen. Wie alle Frauen auf der Welt wollte sie einen echten Liebhaber. Stets gab es etwas, was sie suchte, blind, leidenschaftlich, ein verborgenes Wunder des Lebens. Das große schöne Mädchen mit dem schwingenden Gang, das mit Männern unter Bäumen spaziert war, steckte immerzu die Hand in das Dunkel und versuchte, eine andere Hand zu fassen zu bekommen. Inmitten des ganzen Wörtergeklingels, das den Männern, mit denen sie ihre Abenteuer hatte, von den Lippen floss, versuchte sie das zu finden, was sie für das wahre Wort hielt.
Elizabeth hatte Tom Willard geheiratet, einen Sekretär aus dem Hotel ihres
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