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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherwood Anderson
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ein kleines graues Pony, das in Moyers Stall stand. Tom strich und tapezierte gerade einige Zimmer im Hotel. Er brauchte Geld, und ich überlegte hin und her, ob ich ihm von den achthundert Dollar erzählen sollte, die Vater mir gegeben hatte. Ich konnte mich nicht dazu entschließen. Dafür mochte ich ihn nicht genug. In dieser Zeit hatte er immer Farbe an den Händen und im Gesicht und roch auch entsprechend. Er wollte das alte Hotel herrichten, es neu und schmuck machen.»
    Die aufgeregte Frau saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und machte eine rasche, mädchenhafte Handbewegung, als sie von der Ausfahrt allein an jenem Nachmittag im Frühling erzählte. «Es war bewölkt, und ein Sturm drohte», sagte sie. «Schwarze Wolken ließen das Grün der Bäume und des Grases hervorstechen,
sodass mir die Farben in den Augen brannten. Ich fuhr eine Meile oder noch weiter auf dem Trunion Pike und bog dann in eine Seitenstraße ein. Das kleine Pferd lief hurtig bergauf und bergab. Ich war ungeduldig. Mir kamen Gedanken, und ich wollte vor ihnen fliehen. Ich schlug auf das Pferd ein. Die schwarzen Wolken blieben hängen, und es begann zu regnen. Ich wollte in einem furchtbaren Tempo fahren, immer weiter, ewig weiterfahren. Ich wollte raus aus der Stadt, raus aus meinen Kleidern, meiner Ehe, meinem Körper, aus allem. Ich brachte das Pferd fast um, trieb es an, und als es nicht mehr konnte, stieg ich aus dem Buggy und rannte zu Fuß in das Dunkel, bis ich stürzte und mir an der Seite wehtat. Ich wollte von allem weglaufen, aber ich wollte auch zu etwas hin. Können Sie sich denn nicht vorstellen, mein Lieber, wie das war?»
    Elizabeth sprang auf und lief in der Praxis umher. Sie ging in einer Weise, wie Doktor Reefy es noch bei niemandem gesehen zu haben meinte. In ihrem ganzen Körper war ein Schwung, ein Rhythmus, der ihn berauschte. Als sie zu ihm kam und neben seinem Stuhl niederkniete, nahm er sie in die Arme und küsste sie inniglich. «Ich habe den ganzen Nachhauseweg geweint», sagte sie, als sie versuchte, mit der Geschichte ihrer wilden Fahrt fortzufahren, doch er hörte nicht zu. «Du Liebe! Du Allerliebste! Ach, du Allerliebste!», murmelte er und glaubte, nicht die erschöpfte Frau von einundvierzig Jahren in den Armen zu halten, sondern ein allerliebstes, unschuldiges Mädchen, das sich wie durch ein Wunder aus der Körperhülle der erschöpften Frau hatte hinausschleudern können.
    Doktor Reedy sah die Frau, die er in den Armen gehalten hatte, erst nach ihrem Tod wieder. An jenem Sommernachmittag in der Praxis, als er im Begriff stand, ihr Liebhaber zu werden, bereitete ein fast grotesker kleiner Zwischenfall seiner Werbung ein jähes Ende. Während der Mann und die Frau einander fest umschlungen hielten, kamen schwere Tritte die Treppe zur Praxis heraufgestampft. Die beiden sprangen auf und horchten zitternd. Der Lärm auf der Treppe stammte von einem Angestellten der Kurzwarenfirma «Paris». Mit lautem Knall warf er eine leere Kiste auf das Gerümpel im Flur und polterte dann wieder schwer die Treppe hinab. Elizabeth folgte ihm fast auf dem Fuße. Das, was plötzlich im Gespräch mit ihrem einzigen Freund zum Leben erwacht war, starb mit einem Mal. Sie war hysterisch, ebenso Doktor Reefy, und sie wollte nicht mehr weiterreden. Sie lief auf der Straße, und das Blut sang noch in ihrem Körper, doch als sie von der Main Street abbog und vor sich die Lichter des «New Willard House» sah, begann sie zu zittern, und ihr schlotterten die Knie, sodass sie einen Augenblick lang dachte, sie fiele auf der Straße hin.
    Die kranke Frau verbrachte die letzten Monate ihres Lebens mit der Sehnsucht nach dem Tod. Sie ging auf der Straße des Todes, suchend, sehnend. Sie personifizierte die Gestalt des Todes und machte ihn mal zu einem kräftigen, schwarzhaarigen jungen Mann, der über die Hügel lief, mal zu einem ernsten, stillen, der vom Geschäft des Lebens gezeichnet und vernarbt war. Im Dunkel ihres Zimmers streckte sie die Hand aus, schob sie unter der Decke hervor, und sie glaubte,
der Tod hielte ihr wie etwas Lebendiges die Hand hin. «Hab Geduld, Geliebter», flüsterte sie. «Bleib jung und schön und hab Geduld.»
    An dem Abend, als die Krankheit ihre schwere Hand auf sie legte und ihre Pläne vereitelte, ihrem Sohn George von den versteckten achthundert Dollar zu erzählen, stand sie auf, schleppte sich mühsam über den Fußboden und flehte den Tod um eine weitere halbe Stunde an. «Warte, du Lieber! Der

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