Winslow, Don
Rosenkranzkarten, Gipsheilige und milagros - winzige
Tonskulpturen von Knien, Ellbogen und anderen Körperteilen, die geheilte
Kranke als Votivgaben in der Kathedrale zurücklassen.
Aber heute ist kein normaler Tag. Heute findet die Trauermesse für
Kardinal Parada statt, heute haben sich unter den gelb gekachelten Türmen Tausende von
Trauernden versammelt. Über die Plaza winden sich Schlangen von Wartenden, die
am Sarg des Märtyrers Parada vorbeidefilieren wollen.
Sie kommen aus ganz Mexiko. Die Städter in teuren Anzügen und
zurückhaltend modischer Garderobe, die Campesinos in weißen Hemden und einfachen Kleidern. Auch aus Culiacán und Badiraguato
sind Trauernde gekommen, die man an ihrer Cowboykluft erkennt. Viele wurden
von Parada getauft, erstkommuniziert, getraut oder haben mit ihm die Eltern zu Grabe
getragen, als er noch ein ländlicher Pfarrer war. Auch Regierungsvertreter sind
erschienen, in grauen und schwarzen Anzügen, Priester und Bischöfe in ihrer
geistlichen Tracht und Hunderte Nonnen im Habit ihres Ordens.
An normalen Tagen ist die Plaza voller Lärm - dem Geschnatter der
mexikanischen Passanten, dem Geschrei der Händler, dem Gedudel der
Straßenkapellen, aber heute herrscht beklemmende Stille. Außer Gebetsgemurmel
ist nichts zu hören - nur vielleicht noch das etwas dumpfere Geraune über eine
Verschwörung.
Denn nur wenige glauben der offiziellen Verlautbarung, dass Parada einer
Verwechslung zum Opfer fiel, dass er von den Sicarios der Barreras
für Gúero Méndez gehalten wurde.
Aber heute wird darüber nur leise getuschelt. Heute ist der Tag der
Trauer, und die Tausende, die langsam auf die Kathedrale vorrücken, tun dies
mit Schweigen und in leisem Gebet.
Art Keller ist einer von ihnen.
Je mehr er über den Mord an Parada erfährt, umso drängender die Fragen. Parada saß in einer
weißen Marquis-Limousine, Méndez in einem grünen Buick. Parada trug eine
schwarze Soutane mit großem Brustkreuz (das jetzt fehlt), Méndez war in seiner
Cowboykluft erschienen.
Wie konnte man einen zweiundsechzigjährigen, weißhaarigen Zweimetermann in
Soutane mit einem blonden, etwa einssiebzig großen Drogenbaron in Cowboykluft
verwechseln? Aus allernächster Nähe? Konnte sich ein erfahrener Killer wie Fabián Martínez so sehr irren?
Warum hatte das Flugzeug gewartet? Wie konnten die Barrera-Brüder mit all ihren Sicarios unbehelligt an Bord gelangen? Warum wurden sie nach der Landung in
Tijuana von der Polizei aus dem Flughafen eskortiert?
Und warum war ein Padre Rivera in Tijuana - der Familienpfarrer der Barreras -
bereit zu bezeugen, dass Adán während des Flughafenmassakers von Guadalajara an
einer Kindstaufe in Tijuana teilgenommen hat, obwohl Dutzende von Zeugen ihn
auf dem Flughafen und im Flugzeug gesehen hatten?
Der Pfarrer wies sogar das Taufregister vor - mit Adáns Namen und
Unterschrift.
Und wer war der rätselhafte Yankee, der, ebenfalls von vielen Zeugen
beschrieben, den toten Kardinal in den Armen gehalten hat? Der von den Barreras
ins Flugzeug getragen wurde und dann verschwand?
Keller spricht ein schnelles Gebet - die Leute hinter ihm drängen nach -
und sucht sich einen Sitzplatz in der überfüllten Kathedrale.
Die Totenmesse ist lang. Immer mehr Trauernde gehen ans Pult und
verkünden, was sie Padre Juan zu verdanken haben, die große Kathedrale wird von
Schluchzen erfüllt. Eine Atmosphäre der Trauer, des Gedenkens.
Bis der Präsident an der Reihe ist.
Er musste natürlich kommen. Der Präsident, das gesamte Kabinett, hohe
Regierungsbeamte. Erwartungsvolle Stille breitet sich aus, als er ans Pult
tritt. El Presidente räuspert sich und beginnt: »Durch eine verbrecherische Tat wurde das
Leben eines rechtschaffenen, unbescholtenen, großzügigen Menschen -«
Doch weiter kommt er nicht, weil ein lauter Ruf aus der Menge ertönt: »Justitia!« Gerechtigkeit.
Ein anderer greift den Ruf auf, dann noch einer und noch einer, Sekunden
später rufen Tausende, und der Ruf pflanzt sich fort nach draußen, über den Platz.
»Justitia!
Justitia! Justitia!«
Mit verständnisinnigem Lächeln tritt der Präsident vom Mikrofon zurück,
um zu warten, bis Ruhe einkehrt, aber es kehrt keine Ruhe ein.
»Justitia!
Justitia! Justitia!«
Die Rufe schwellen weiter an.
»JUSTITIA!
JUSTITIA! JUSTITIA!«
Die Geheimpolizisten werden nervös, verständigen sich zischelnd über ihre
Sprechanlagen, aber sie können kaum etwas verstehen wegen der Rufchöre -
»JUSTITIA!
JUSTITIA!
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