Winter
Esszimmer, wo sich der Teppich gelöst hatte, und hob ihn hoch. »Schau mal, was da darunter ist! Schönste baltische Fichte. Wenn wir das abschleifen und versiegeln lassen und du in ein paar Kelims investierst, könnte das eine sehr schöne Atmosphäre schaffen. Was meinst du?«
»Okay, von mir aus.«
»Was hast du denn für Pläne? Ich meine, um hier ganz allein zu wohnen, bist du doch noch zu jung.«
Ich musste mit jemandem reden und ich mochte ihn. »Ich weiß es noch nicht genau«, gab ich zu. »Ich wollte einfach nur zurück. Heimweh vielleicht. Da ist eine konkrete Sache, die ich tun will. Um alles andere kümmere ich mich nach Lage. Als ich zum Beispiel den Zustand des Hofs sah, dachte ich nur, ich sollte das Haus reparieren lassen.«
»Als deine Eltern noch lebten, war das Haus ein Traum. Deine Mutter hatte einen tollen Geschmack. Sie war berühmt für ihren Sinn für Design. Ich weiß nicht, wer das Haus weiß gestrichen hat, aber Phyllis hätte einen Anfall bekommen. Sie verstand mehr von Farben als jeder andere.«
»Komisch«, meinte ich. »Dasselbe hat mein Zeichenlehrer im letzten Semester über mich gesagt.«
»Willst du wieder zur Schule gehen?«
»Ich denke schon. Aber nicht gleich. Momentan hab ich das Gefühl, ich bin zu alt für die Schule.«
»In Exley gibt es eine gute Oberschule.«
»Ich würde gerne in eine öffentliche Schule gehen. Ich war mein Leben lang auf Privatschulen. Irgendwann bekam ich Platzangst.«
Als ich ihn zu seinem Auto begleitete, wusste ich: entweder fragte ich ihn jetzt oder er wäre fort, bevor ich noch einmal Gelegenheit dazu hatte. Also bemühte ich mich um einen möglichst freundlichen und gelassenen Ton und fragte: »Wie waren meine Eltern eigentlich?«
»Hast du viele Erinnerungen an sie?«
»Nein.«
»Hmm. Schwer zu sagen, wo man anfangen soll. Hör mal, komm doch Samstagabend zu uns zum Essen! Da können wir reden. Meine Tochter wird auch da sein. Dann hast du auch gleich Gesellschaft. Jess ist achtzehn. Wenn du möchtest, hole ich dich um halb sieben ab.«
»Danke«, erwiderte ich, »das wäre fein.«
Als er in seinen Mercedes stieg, sagte er: »Es gibt noch andere Leute, die du fragen kannst. Ich meine, über deine Eltern. Deine Nachbarn da drüben, die Kennedys, sind schon ewig hier und waren mit deiner Mum und deinem Dad gut befreundet.«
Bei dem Gedanken wurde ich rot. Nach der Begegnung mit dem Jungen auf dem Pferd wollte ich nicht einmal in ihre Nähe.
»Wer noch?«
»Die Slades in Christie. Und Dr. Li. Aber frag doch deine Tante. Sie kennt alle hier.«
»Meine was?«
»Deine Tante. Mrs Harrison. Deine Tante Rita. Deine Großtante. Du weißt schon.«
Es hatte beinahe etwas Komisches, wie er eine Information an die andere reihte, als teilte er die Karten in einem Blackjack-Spiel aus. Er konnte ja meinem Gesichtsausdruck ansehen, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wovon er redete. In Wirklichkeit war es aber überhaupt nicht komisch.
Er stieg noch einmal aus dem Wagen. »Auf Bannockburn. Nur ein Stück die Straße runter.«
Er zeigte in Richtung Christie. Ich erinnerte mich an den Namen Bannockburn. Er war mir an einer imposanten weißen Einfahrt aufgefallen, als mich Mr Carruthers zum Einkaufen nach Christie mitnahm.
»Ich habe eine Tante?«
»Ja, eine Großtante. Soll das heißen, du weißt das nicht?«
»Die Robinsons haben mir gesagt, dass ich außer ihnen keine nahen Verwandten habe.«
»Wer sind die Robinsons?«
»Mrs Robinson ist die Halbschwester meiner Mutter. Dadurch ist sie eine halbe Tante.«
»Und von deiner Großtante Rita hast du nichts gewusst? Das ist erstaunlich. Das ist ja unglaublich, dass dir das niemand gesagt hat.«
»Ich finde es noch viel unglaublicher, dass sie sich nie bei mir gemeldet hat.«
»Tja, das finde ich auch einigermaßen bemerkenswert. Andererseits ist sie exzentrisch. Und willensstark. Wie im Übrigen alle Frauen in deiner Familie.« Er grinste mich an. »Na gut, ich bin erst zweien von ihnen begegnet. Und jetzt dir. Das macht schon drei. Aber ich denke, mit dieser kleinen Verallgemeinerung liege ich gar nicht so falsch.«
Als er wieder im Wagen saß, fügte er hinzu: »Du könntest ja mal rübergehen und dich Mrs Harrison vorstellen. Man kann von hier aus zu Fuß hingehen.«
»Danke. Vielleicht tue ich das sogar.«
»Okay. Wir sehen uns also am Samstag, dann kannst du mir ja erzählen, wie es war.«
6
Ich kehrte völlig durcheinander zum Haus zurück. Dabei spürte ich fast so etwas wie… Angst. Zugegeben, das
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