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Winter

Winter

Titel: Winter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Marsden
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weshalb ich auch nicht mehr darauf achten musste, wo ich hintrat.
    Ich sang das Wanderlied noch einmal und hatte gerade mit der zweiten Strophe begonnen, als ich eine böse Überraschung erlebte. Okay, durch das Murmeln des Bachs und den Gesang meiner Stimme hätte ich ohnehin nicht viel gehört, außerdem lief der Weg jetzt im Zickzack durch dichtesten Busch, wodurch sonstige Geräusche noch zusätzlich gedämpft wurden.
    Der Grund ist ja auch egal, jedenfalls hatte ich bis zur letzten Sekunde keine Ahnung, dass mir jemand entgegenkam. Und wenn ich sage, bis zur letzten Sekunde, dann meine ich das auch so. Echt gemeingefährlich war das, denn mit einem Schlag waren alle meine Sinne einem Generalangriff ausgesetzt: trampelnde Hufe, die schnaubenden Nüstern eines Pferds, der Anblick eines unmittelbar vor mir auftauchenden gewaltigen Tieres und seines Reiters und dann stieg mir auch noch der Pferdegeruch in die Nase.
    Ich hechtete nach rechts, schlitterte auf allen vieren die Böschung zum Bach hinunter und landete auf dem Bauch, mit dem Gesicht zur Hälfte im Dreck und nach Luft schnappend.
    Als ich wieder zu Atem gekommen war, war ich wütend. Was heißt wütend, ich war fuchsteufelswild! Ich rappelte mich hoch und kletterte die Böschung zum Weg zurück. Dem Reiter war es gelungen, das Pferd zu zügeln, und soeben schwenkte er es auf einer kleinen, dreißig oder vierzig Meter entfernten Lichtung herum. Er kehrte zu mir zurück. Ich erwartete ihn mit donnerndem Herzen und einer Wut, die wie die Quecksilbersäule in einem Thermometer immer höher stieg. Dieses Thermometer kannte keinen Höchstwert. Es stieg und stieg und erreichte gerade den Siedepunkt, als er vor mir stehen blieb.
    »Was zum Teufel soll das?«, schrie ich ihn an. »Weißt du denn nicht, dass das hier ein Privatgrund ist?«
Er nickte. »Doch, das weiß ich.«
»Woher nimmst du dann das verdammte Recht, hier durchzutrampeln wie ein völlig Irrer, noch dazu auf einem durchgedrehten Gaul?«
»Gaul ist etwas hart«, erwiderte er seelenruhig.
Er konnte von Glück reden, dass ich keinen Ast bei der Hand hatte oder einen großen Stein. Oder eine Panzerfaust.
»Hör zu«, sagte ich so kalt wie möglich. »Du und dein Pferd, ihr haut jetzt von diesem Grundstück ab und ihr kommt nie wieder, kapiert?«
Er starrte mich inzwischen mit leicht geöffnetem Mund und geröteten Wangen an. Eigentlich sah er ganz gut aus, nicht viel älter als ich, schwarzes Haar und dunkle Augen und ein kantiges Kinn. Das Pferd war auch nicht schlecht. Er hatte Recht, »Gaul« war wirklich etwas hart. Es war ein perfekt gepflegter dunkler Fuchs, etwa achtzehn Handbreit hoch, jedoch mit einem wilden Ausdruck im Blick. Der Junge musste ein ziemlich guter Reiter sein, dachte ich widerstrebend, um ein Pferd unter Kontrolle zu halten, das aussah wie der geborene Killer.
»Wetten, ich weiß, wer du bist«, sagte er langsam. »Du bist Winter. Winter De Salis.«
»Volltreffer«, antwortete ich noch eine Spur kälter. »Jetzt hau von meinem Land ab.«
Das Pferd schnaubte, tänzelte ein wenig und warf den Kopf hoch. »He, Hutch, ruhig«, sagte der Junge. Dann wandte er sich wieder mir zu: »Ich hab schon gehört, dass du zurückkommen würdest. Bleibst du jetzt für immer?«
Der Typ war unglaublich. Er scherte sich überhaupt nicht darum, was ich gerade gesagt hatte, im Gegenteil, er tat so, als würde das Land ihm gehören.
»Pass auf«, sagte ich. »Es ist mir egal, ob du von Ralph oder sonst wem eine Erlaubnis hast. Ab heute sind alle Deals gestrichen. Komm nicht mehr hierher. Ich will nicht, dass die Leute nach Lust und Laune hier durchgaloppieren.«
Er deutete mit der Hand hinter seine Schulter. »Hast du ein paar hundert Meter von hier die Brücke über den Bach bemerkt?«
An einer Weggabelung war mir tatsächlich eine schmale Holzbrücke aufgefallen, ich war aber hier lang gekommen, weil es mir besser gefiel.
»Ja, und?«
»Dort hört dein Land auf«, sagte er. »Links davon ist ein Zaun, den man vom Weg aus aber nicht sieht. Deshalb ist es auch etwas schwer auszumachen. Du befindest dich auf unserem Land. Fühle dich aber wie zu Hause und genieße deinen Spaziergang.«
Er schnalzte mit der Zunge und das Pferd, das ohnehin schon unruhig war, weil die Richtung nun nach Hause wies, setzte sich in Bewegung. Ich musste ihnen ein zweites Mal ausweichen. Mein Gesicht war knallrot. Noch eine Spur heißer und es wäre von innen verglüht. Ich blickte ihnen nach, dem Pferd, das in einen raschen

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