Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Hochzeitsfrühstück im großen Ballsaal des Hotels Dorchester den Unterschied zwischen ihm und dem Engländer aus der Oberschicht beobachten konnte.
Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war Lady Aberowen, und das konnte ihr niemand mehr nehmen.
Beas unablässige Feindseligkeit Lev gegenüber bildete dennoch einen Störfaktor, der wie ein Hauch von schlechtem Geruch oder wie ein fernes Summen war und Daisy ein Gefühl der Unzufriedenheit gab. Bea saß am oberen Ende der Tafel neben Lev und hielt den Kopf stets leicht von ihm weggedreht. Wenn er sie ansprach, antwortete sie kurz und knapp, ohne ihm je in die Augen zu schauen. Er schien es nicht zu bemerken, doch Daisy, die auf Levs anderer Seite saß, sah genau, dass es ihm keineswegs entgangen war. Er mochte ungehobelt sein, aber dumm war er nicht.
Als die Trinksprüche ausgebracht waren und die Männer sich ihre Zigarren anzündeten, blickte Lev, der als Vater der Braut die Rechnung zahlen musste, den Tisch entlang. »Nun, Fitz, ich hoffe, Sie haben das Essen genossen. Haben die Weine Ihren Vorstellungen entsprochen?«
»Sehr gut, vielen Dank.«
»Ich muss schon sagen, es war ein verdammt schöner Tafelschmuck.«
Bea machte hörbar: »Ts-ts.« Männer hatten in ihrer Hörweite nicht »verdammt« zu sagen.
Lev wandte sich ihr zu. Er lächelte, doch Daisy kannte den gefährlichen Ausdruck in seinen Augen. »Nanu, Fürstin, habe ich Sie gekränkt?«
Sie wollte nicht antworten, doch Lev blickte sie erwartungsvoll an, ohne die Augen von ihr zu nehmen. Schließlich sagte sie: »Ich ziehe es vor, keine anstößige Sprache zu hören.«
Lev nahm eine Zigarre aus dem Kästchen. Er zündete sie nicht an, sondern schnüffelte daran und rollte sie zwischen den Fingern. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen«, sagte er und ließ den Blick schweifen, um sich zu vergewissern, dass alle zuhörten: Fitz, Olga, Boy, Daisy und Bea. »Als ich ein kleiner Junge war, wurde mein Vater angeklagt, er habe sein Vieh auf fremdem Land grasen lassen. Sie glauben vielleicht, dass es keine große Sache gewesen sein kann, aber da irren Sie sich. Mein Vater wurde verhaftet, und der Bezirkshauptmann ließ auf der Nordwiese ein Schafott errichten. Dann kamen Soldaten, packten mich, meinen Bruder und meine Mutter und schleppten uns dorthin. Mein Vater stand unter dem Galgen, eine Schlinge um den Hals. Dann traf der Gutsherr ein.«
Daisy hatte die Geschichte noch nie gehört. Sie blickte ihre Mutter an, die genauso überrascht war.
Die kleine Gesellschaft am Tisch war sehr still geworden.
»Wir mussten zusehen, wie mein Vater gehenkt wurde«, sagte Lev und wandte sich Bea zu. »Und wissen Sie, was merkwürdig war? Die Schwester des Gutsherrn war ebenfalls gekommen.« Er steckte sich die Zigarre zwischen die Lippen, befeuchtete das Ende und zog sie wieder heraus.
Daisy sah, dass Bea kreidebleich geworden war. Ging es um sie?
»Die Schwester war ungefähr neunzehn Jahre alt, und sie war eine Fürstin«, fuhr Lev fort und blickte auf die Zigarre. Bea entfuhr ein leiser Schrei, und Daisy begriff, dass die Geschichte tatsächlich von ihr handelte. »Sie stand da und schaute zu, wie mein Vater gehenkt wurde. Sie war kalt wie Eis«, sagte Lev.
Er blickte Bea offen an. »So etwas nenne ich anstößig.«
Ein langer Moment des Schweigens folgte.
Dann schob Lev sich die Zigarre wieder zwischen die Lippen und fragte: »Hat jemand Feuer?«
Lloyd Williams saß im Haus seiner Eltern in Aldgate am Küchentisch und studierte voller Unruhe eine Karte.
Es war Sonntag, der 4. Oktober 1936, und heute würde es einen Aufstand geben.
Die alte römische Siedlung Londinium, auf einem Hügel an der Themse errichtet, war heute die City, das Finanzviertel der Stadt. Westlich des Hügels standen die Villen der Reichen, ihre Theater, Läden und Kathedralen. Das Haus, in dem Lloyd saß, befand sich östlich des Hügels unweit der Häfen, in denen jahrhundertelang immer neue Wellen von Einwanderern gelandet waren, entschlossen, im Schweiße ihres Angesichts zu schuften, damit ihre Enkel eines Tages vom Eastend ins Westend ziehen konnten.
Die Karte, die Lloyd so eingehend betrachtete, war in einer Sonderausgabe des Daily Worker abgedruckt, der Parteizeitung der Kommunisten, und zeigte die Route, die der heutige Aufmarsch der British Union of Fascists nehmen sollte. Die Faschisten wollten sich an der Grenze zwischen City und Eastend vor dem Tower sammeln und dann nach Osten marschieren, geradewegs
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