Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Bergspitzen. Es machte den Eindruck, als gehöre es ihm schon seit vielen Jahren. Im Raum standen maskuline Ledersessel, undan den Wänden hingen Bilder von Flugzeugen und Rennpferden. Daisy entdeckte einen Humidor aus Zedernholz voller duftender Zigarren und einen Beistelltisch mit Karaffen voll Whisky und Brandy und einem Tablett mit geschliffenen Gläsern.
Sie zog eine Schublade auf und fand Tŷ-Gwyn-Briefpapier, eine Tintenflasche, Füllhalter und Bleistifte. Das blaue Papier zeigte das Wappen der Fitzherberts. Würde es eines Tages auch ihr Wappen sein?
Daisy fragte sich, was Boy sagen würde, wenn er sie hier anträfe. Würde er sich freuen? Würde er sie in die Arme nehmen und küssen? Oder wäre er verärgert, weil sie in seine Privatsphäre eingedrungen war, und würde sie der Schnüffelei bezichtigen? Dieses Risiko musste sie eingehen.
Daisy ging in das angrenzende Ankleidezimmer, in dem sich ein kleines Waschbecken mit einem Spiegel befand. Boys Rasierzeug lag auf dem Marmorrand. Flüchtig dachte Daisy daran, wie gern sie lernen würde, ihren Mann zu rasieren. Wie intim das wäre!
Sie öffnete die Schranktüren und schaute sich Boys Kleidung an: ein Gesellschaftsanzug für den Morgen, Tweedanzüge, Reitkleidung, eine Pilotenjacke aus Leder mit Pelzfutter und zwei Abendanzüge.
Der Anblick brachte Daisy auf eine Idee.
Sie erinnerte sich daran, wie sehr es Boy erregt hatte, als sie und die anderen Mädchen sich im Haus von Bing Westhampton als Männer verkleidet hatten. An jenem Abend hatte er sie zum ersten Mal geküsst. Sie war sich nicht sicher, weshalb er so erregt gewesen war – solche Dinge ließen sich im Allgemeinen auch gar nicht erklären. Lizzie Westhampton sagte, manche Männer hätten es gern, wenn Frauen ihnen den Hosenboden versohlten. Wie sollte man so etwas je verstehen?
Vielleicht sollte sie sich jetzt seine Sachen anziehen.
Sie müsse Boy etwas bieten, wofür er alles tun würde, hatte ihre Mutter gesagt. Hatte sie es gefunden?
Daisy starrte auf die Reihe der Anzüge, die auf den Bügeln hingen, auf den Stapel gefalteter weißer Hemden und auf die polierten Lederschuhe, jeder einzelne auf einem hölzernen Schuhspanner. Ob das klappte? Blieb ihr Zeit genug?
Hatte sie etwas zu verlieren?
Sie konnte die Kleidungsstücke nehmen, die sie brauchte, sie zur Gardeniensuite bringen und dann zurückeilen in der Hoffnung, dass niemand sie unterwegs sah …
Nein. Dafür blieb keine Zeit. So lang war seine Zigarre nicht gewesen. Sie musste sich hier umziehen, und zwar schnell – oder gar nicht.
Daisy entschied sich.
Sie zog das Kleid aus.
Nun schwebte sie in Gefahr. Bis zu diesem Augenblick hätte sie ihre Anwesenheit in diesem Zimmer noch halbwegs glaubhaft damit erklären können, sie habe sich in Tŷ Gwyns meilenlangen Korridoren verlaufen und sei versehentlich ins falsche Zimmer gegangen. Doch in Unterwäsche im Zimmer eines Mannes vorgefunden zu werden hätte der Ruf keiner Frau überstanden.
Daisy nahm das oberste Hemd vom Stapel. Als sie sah, dass der Kragen mit einem Knopf befestigt werden musste, ächzte sie entmutigt. In einer Schublade fand sie ein Dutzend gestärkte Kragen mit einer Schachtel Knöpfe, befestigte einen davon am Hemd und zog es sich über den Kopf.
Sie erstarrte, als sie draußen auf dem Flur die schweren Schritte eines Mannes hörte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Doch die Schritte bewegten sich an der Tür vorbei und verklangen.
Daisy entschied sich für den Gesellschaftsanzug. An der gestreiften Hose war kein Träger, aber sie fand welche in einer anderen Schublade. Nach mehreren Versuchen hatte sie herausgefunden, wie man den Träger an die Hose knöpfte, und zog die Hose über. Der Bund war so weit, dass sie zweimal hineingepasst hätte.
Sie schob die bestrumpften Füße in ein Paar glänzende schwarze Schuhe und schnürte sie. Dann knöpfte sie das Hemd zu und legte eine silberne Krawatte an. Der Knoten saß nicht richtig, aber das spielte keine Rolle. Sie wusste ohnehin nicht, wie man eine Krawatte richtig band, also ließ sie den Knoten, wie er war. Über das Hemd zog sie eine rehbraune Weste und einen schwarzen Frack.
Schließlich betrachtete sie sich in dem hohen Spiegel an der Innenseite der Schranktür.
Die Kleidungsstücke waren weit wie Säcke, aber sie sah niedlich darin aus.
Da sie nunmehr Zeit hatte, schloss sie die Hemdmanschetten mit goldenen Knöpfen und steckte sich ein weißes Taschentuch in die Brusttasche.
Etwas fehlte noch.
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