Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
die Leute Daisy nun schon mit »Mylady« an, doch es schmeichelte ihr noch immer und erfüllte sie nach wie vor mit Stolz.
Boy jedoch schien der Ansicht zu sein, dass sich in seinem Leben durch die Ehe kaum etwas ändern müsse. Er verbrachte die Abende mit seinen Freunden und reiste durch das ganze Land, um sich Pferderennen anzuschauen, wobei er Daisy nur selten in seine Pläne einweihte. Deshalb konnte es geschehen, dass Daisy auf eine Party ging und dort ganz überraschend ihren eigenen Ehemann antraf, was ihr natürlich schrecklich peinlich war. Doch um zu erfahren, wo Boy sich jeweils aufhielt, hätte sie seinen Diener fragen müssen, und das war unter ihrem Stand.
Wann wurde Boy endlich erwachsen? Wann verhielt er sichso, wie es einem Ehemann anstand? Oder würde er sich niemals ändern?
Er streckte den Kopf zur Tür herein. »Na los, Daisy, wir kommen zu spät.«
Sie legte den Brief ihrer Mutter in eine Schublade, schloss sie ab und ging hinaus.
Boy wartete im Smoking auf dem Flur. Der Earl hatte sich schließlich doch der Mode unterworfen und gestattete der Familie, beim Dinner im eigenen Haus informelle Abendkleidung zu tragen.
Normalerweise wären sie zu Fuß zu Fitz’ Villa gegangen, doch es regnete so heftig, dass Boy den Wagen vorfahren ließ, einen cremefarbenen Bentley Airline Saloon mit Weißwandreifen. Genau wie sein Vater liebte Boy elegante Autos.
Er setzte sich selbst an Steuer. Daisy hoffte, dass sie die Strecke zurückfahren durfte. Sie saß gern am Lenkrad, und nach dem Abendessen war Boy selbst bei besten Bedingungen kein sicherer Fahrer mehr, erst recht nicht auf nassen Straßen.
London bereitete sich auf einen Krieg vor. In zweitausend Fuß Höhe schwebten Sperrballons über der Stadt, um feindliche Bomber zu behindern. Für den Fall, dass die Ballons wirkungslos blieben, waren vor wichtigen Gebäuden Sandsackwälle errichtet worden. Jeden zweiten Bordstein hatte man weiß gestrichen, damit Autofahrer sich in der Verdunklung zurechtfanden, die seit gestern angeordnet war. Bäume, Telefonzellen, Hydranten und andere Gefahrenpunkte, an denen es zu Unfällen kommen konnte, hatte man mit weißen Streifen bemalt.
Fürstin Bea hieß Boy und Daisy willkommen. Die Fürstin war über fünfzig und ziemlich drall, kleidete sich aber noch immer wie ein junges Mädchen. Heute Abend trug sie ein rosarotes, mit Perlen und Pailletten besticktes Kleid. Über die schreckliche alte Geschichte aus Russland, die Daisys Vater am Hochzeitstag erzählt hatte, sprach sie niemals; aber sie hatte auch nie wieder Andeutungen gemacht, Daisy sei gesellschaftlich unterlegen: Sie redete in höflichem, wenn auch nicht herzlichem Ton mit ihr. Daisy gab sich Bea gegenüber freundlich, war aber stets auf der Hut und behandelte sie wie eine leicht verrückte alte Tante.
Boys jüngerer Bruder Andy war ebenfalls gekommen. Er undMay hatten zwei Kinder, doch Daisys interessiertem Blick entging nicht, dass offenbar schon wieder Nachwuchs unterwegs war.
Boy wünschte sich natürlich einen Sohn, der Titel und Vermögen der Fitzherberts erben sollte, aber bislang war Daisy nicht schwanger geworden, was zu Reibereien zwischen den beiden geführt hatte. Die offensichtliche Fruchtbarkeit von Andy und May machte es nur schlimmer. Boy schien dabei allerdings zu übersehen, dass Daisy bessere Aussichten auf eine Schwangerschaft gehabt hätte, wäre er abends häufiger zu Hause geblieben.
Daisy jedenfalls freute sich, ihre alte Freundin Eva zu sehen, die allerdings ohne ihren Mann gekommen war: Jimmy Murray, mittlerweile zum Captain befördert, war bei seiner Kompanie und hatte sich nicht freimachen können. Die meisten Soldaten hatten in ihren Kasernen Alarmbereitschaft, und die Offiziere waren bei ihnen. Eva gehörte nun zur Familie, denn Jimmy war Mays Bruder und daher Daisys Schwager. Was Boy betraf, so war er gezwungen, seine Vorurteile gegenüber Juden zurückzustellen und Eva mit Höflichkeit zu behandeln.
Eva betete Jimmy noch genauso an wie vor drei Jahren, als sie ihn geheiratet hatte. Auch die Murrays hatten es schon zu zwei Kindern gebracht. Eva wirkte an diesem Abend besorgt, und Daisy konnte sich denken, aus welchem Grund. »Wie geht es deinen Eltern?«, fragte sie.
»Sie dürfen Deutschland nicht verlassen«, antwortete Eva betrübt. »Sie erhalten kein Ausreisevisum.«
»Kann Fitz nicht helfen?«
»Er hat es versucht.«
»Was haben deine Eltern denn getan?«
»Sie sind Juden, das ist ihr Verbrechen.
Weitere Kostenlose Bücher