Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
der Wand hing ein Foto, auf dem er Hitler die Hand schüttelte.
Er begrüßte Carla nicht. Stattdessen fragte er ohne jede Einleitung: »Was ist eine imaginäre Zahl?«
Carla war von seiner abrupten Art überrascht, aber wenigstens war es eine leichte Frage. »Eine imaginäre Zahl ist die Quadratwurzel einer negativen reellen Zahl – minus eins zum Beispiel«, antwortete sie mit zittriger Stimme. »Man kann ihr keinen realen numerischen Wert zuordnen, trotzdem kann man sie in Gleichungen verwenden.«
Der Professor wirkte ein wenig überrascht. Vielleicht hatte er geglaubt, Carla bereits mit seiner ersten Frage auszuknocken. »Korrekt«, sagte er nach kurzem Zögern.
Carla schaute sich um. Nirgends war ein Stuhl zu sehen. Sollte sie etwa im Stehen befragt werden?
Professor Bayer stellte ihr nun Fragen in den Fächern Chemie und Biologie, die Carla mühelos beantwortete. Allmählich fiel die Nervosität von ihr ab. Dann fragte Bayer unvermittelt: »Fallen Sie beim Anblick von Blut in Ohnmacht?«
»Nein, Herr Professor.«
»Aha!«, sagte er triumphierend. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Als ich elf Jahre alt war, habe ich ein Baby auf die Welt geholt. Das war eine ziemlich blutige Angelegenheit.«
»Sie hätten einen Arzt rufen sollen.«
»Das habe ich. Aber Babys warten nicht auf Ärzte.«
»Hm.« Professor Bayer stand auf. »Warten Sie hier«, wies er Carla an und verließ das Büro.
Carla blieb steif stehen. Professor Bayer unterzog sie einer harten Prüfung; aber bis jetzt hatte sie sich gut geschlagen, da war sie sicher. Zum Glück war sie Diskussionen gewohnt, auch hitzige Wortgefechte, mit Männern und Frauen jeden Alters. Solche Streitgespräche waren im Hause von Ulrich nicht selten. Solange sie denken konnte, hatte Carla sich immer wieder gegen ihren Bruder und ihre Eltern durchsetzen müssen.
Professor Bayer blieb mehrere Minuten weg. Was machte er? Wollte er einen Kollegen holen, um ihm die kluge Bewerberin vorzustellen? Nein, sagte sich Carla, das wäre sicherlich zu viel erhofft.
Sie war versucht, sich eines der Bücher aus dem Regal zu nehmen und darin zu lesen, doch sie befürchtete, den Professor zu verärgern; also rührte sie sich nicht von der Stelle.
Zehn Minuten später kam Bayer mit einer Schachtel Zigaretten zurück. Carla runzelte die Stirn. Hatte er sie mitten in seinem Büro stehen lassen, nur um in den Tabakwarenladen zu laufen? Oder war das auch nur eine Art Prüfung gewesen? Allmählich stieg Zorn in Carla auf.
Professor Bayer zündete sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an. Es war, als bräuchte er Zeit, seine Gedanken zu sammeln. Schließlich blies er den Rauch aus und fragte: »Wie würden Sie als Frau mit einem Mann umgehen, der eine Infektion des Penis hat?«
Carla spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete. Noch nie hatte sie mit einem Mann ein intimes Gespräch geführt; aber sie wusste, dass sie mit solchen Fragen fertigwerden musste, wenn sie Ärztin werden wollte. »Genau so, wie Sie als Mann mit einer Vaginalinfektion umgehen würden«, antwortete sie.
Professor Bayer musterte sie entsetzt. Carla befürchtete, zu frech gewesen zu sein; deshalb fuhr sie rasch fort: »Ich würde das infizierte Organ sorgfältig untersuchen, nach der Ursache forschen und mich vermutlich für eine Behandlung mit Sulfonamid entscheiden. Ich muss allerdings gestehen, dass wir solche Themen im Biologieunterricht nicht behandelt haben.«
Skeptisch fragte Professor Bayer: »Haben Sie je einen nackten Mann gesehen?«
»Ja.«
Er spielte den Entsetzten. »Aber Sie sind alleinstehend!«
»Als mein Großvater im Sterben lag, war er bettlägerig und inkontinent. Ich habe Mutter geholfen, ihn zu waschen. Sie konnte das nicht allein. Er war zu schwer.« Carla versuchte sich an einem Lächeln. »Frauen machen so etwas ständig, Herr Professor, für die ganz Jungen und die ganz Alten, für die Kranken und Hilflosen. Wir sind das gewohnt. Nur Männer finden so etwas peinlich.«
Professor Bayer blickte zunehmend verärgert drein, obwohl Carla ihm völlig korrekt antwortete. Es schien beinahe, als hätte er es lieber gesehen, wäre Carla eingeschüchtert gewesen und hätte ihm dumme Antworten gegeben.
Nachdenklich drückte Bayer seine Zigarette im Aschenbecher aus. »Ich fürchte«, sagte er, »Sie sind für dieses Stipendium ungeeignet.«
Carla konnte es nicht fassen. Was hatte sie falsch gemacht? Sie hatte jede Frage beantwortet! »Warum?«, wollte sie wissen. »Meine Zeugnisse sind
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