Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
unendlich traurig, wie vor fünfundzwanzig Jahren«, antwortete Maud. »Ich war mit eurem Vater den gesamten Großen Krieg hindurch verheiratet. Mehr als vier Jahre lang hatte ich jeden Tag Angst, er könnte sterben.«
»Auf wessen Seite würdest du denn stehen?«, fragte Erik mit lauerndem Unterton.
»Ich bin Deutsche«, antwortete Maud. »Und bei unserer Heirat habe ich deinem Vater geschworen, in guten wie in schlechten Zeiten zu ihm zu stehen. Natürlich konnten wir so etwas so abgrundtief Schlechtes wie den Nationalsozialismus nicht voraussehen. Niemand konnte das.« Erik schnaubte protestierend, doch Maud ignorierte ihn. »Aber ein Schwur ist ein Schwur. Außerdem liebe ich euren Vater.«
»Und wir sind ja nicht im Krieg«, bemerkte Carla.
»Noch nicht«, sagte Maud. »Wenn die Polen auch nur einen Funken Verstand haben, werden sie den Schwanz einziehen und Hitler geben, was er verlangt.«
»Allerdings«, sagte Erik. »Deutschland ist wieder stolz und stark. Wir können uns nehmen, was wir wollen, ob es anderen gefällt oder nicht.«
Maud verdrehte die Augen. »Gott stehe uns bei.«
Als draußen jemand hupte, legte sich ein Lächeln auf Carlas Gesicht. Kurz darauf kam ihre Freundin Frieda Franck in die Küche, die Carla zu dem Bewerbungsgespräch begleiten und sie moralisch unterstützen wollte. Auch Frieda trug die schlichte Schulmädchenmode, doch im Unterschied zu Carla hatte sie auch jede Menge schicke Sachen im Schrank.
Gleich nach Frieda kam ihr älterer Bruder Werner in die Küche. Carla fand ihn großartig. Im Gegensatz zu vielen anderen gut aussehenden Jungen war er freundlich und humorvoll. Deshalbwunderte es Carla nicht, dass er schon eine ganze Reihe hübscher Freundinnen gehabt hatte. Hätte sie gewusst, wie man flirtet, wäre Werner Franck ihr erstes Ziel gewesen. Früher hatte er politisch weit links gestanden, aber davon schien nichts mehr übrig zu sein: Er war ein unpolitischer Mensch geworden.
»Ich würde euch ja gern Kaffee anbieten«, sagte Maud, »aber es ist nur Muckefuck, und ich weiß, dass ihr zu Hause richtigen Kaffee habt.«
»Soll ich Ihnen eine Tüte aus unserer Küche klauen, Frau von Ulrich?«, fragte Werner. »Ich finde, das haben Sie sich verdient.«
Maud errötete leicht. Carla erkannte mit einiger Missbilligung, dass ihre Mutter trotz ihrer achtundvierzig Jahre Werners Charme nicht widerstehen konnte.
Werner schaute auf seine goldene Armbanduhr. »Ich muss los«, sagte er. »Im Luftfahrtministerium herrscht in den letzten Tagen das reinste Chaos.«
»Danke fürs Mitnehmen, Bruderherz«, sagte Frieda.
»Du bist mit Werner gefahren?«, fragte Carla. »Wo ist dann dein Fahrrad?«
»Draußen. Wir haben es auf den Kofferraum geschnallt.«
Beide Mädchen gehörten dem Merkur-Fahrradclub an und fuhren mit ihren Rädern, wann immer möglich.
»Viel Glück beim Bewerbungsgespräch, Carla«, sagte Werner. »Wiedersehen, alle miteinander!« Und weg war er.
Carla aß ihr letztes Stück Brot. Gerade als sie gehen wollte, kam ihr Vater in die Küche. Er hatte sich noch nicht rasiert und trug keine Krawatte. Walter war ziemlich füllig gewesen, als Carla ein kleines Mädchen gewesen war, doch in den letzen Jahren war er schrecklich abgemagert. Liebevoll küsste er seine Tochter.
»Wir haben die Nachrichten noch gar nicht gehört«, sagte Maud und schaltete das Radio ein.
Während das Röhrengerät noch warm lief, verließen Carla und Frieda das Haus und machten sich auf den Weg zum Universitätskrankenhaus. Es befand sich in Berlin Mitte, wo die von Ulrichs auch zu Hause waren, sodass die Mädchen nur ein kurzes Stück radeln mussten. Carla wurde allmählich nervös. Die Autoabgase bereiteten ihr Übelkeit, und sie wünschte sich, nicht gefrühstückt zu haben.
Sie erreichten das Krankenhaus, ein Gebäude aus den Zwanzigerjahren, und machten sich auf den Weg zum Büro von Professor Bayer, der über die Auswahl der Stipendiaten bestimmte. Eine arrogante Sekretärin ließ die Mädchen wissen, dass sie zu früh seien und warten müssten.
Und sie mussten lange warten. Doch als die Sekretärin schließlich zu ihnen kam und sagte, der Professor habe nun Zeit für sie, war es Carla viel zu schnell gegangen.
Frieda flüsterte: »Viel Glück.«
Carla betrat Bayers Büro.
Der Professor, ein hagerer Mann in den Vierzigern mit einem dünnen grauen Schnurrbart, saß hinter einem Schreibtisch. Er trug ein braunes Leinenjackett über der Weste eines grauen Geschäftsanzugs. An
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