Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Kinder dein Vater hat. Es geht um dich und mich. Ich bin eine moderne Amerikanerin und werde nicht mit einem untreuen Ehemann zusammenleben.«
»Was willst du denn machen?«
»Dich verlassen.« Sie blickte ihn trotzig an, empfand dabei aber einen Schmerz, als hätte Boy ihr ein Messer in den Leib gerammt.
»Du kehrst mit eingeklemmtem Schwanz nach Buffalo zurück?«
»Vielleicht. Oder ich tue etwas ganz anderes. Geld genug habe ich ja.« Die Anwälte ihres Vaters hatten dafür gesorgt, dass Boy durch ihre Heirat keine Verfügungsgewalt über das Vyalov-Peshkov-Vermögen bekam. »Ich könnte nach Kalifornien ziehen. In einem von Vaters Filmen mitspielen. Ein Star werden. Ja, ich wette, das könnte ich.« Doch sie spielte ihm nur etwas vor. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen.
»Dann geh doch!«, rief Boy. »Fahr zur Hölle, mir ist es egal!«
Sie fragte sich, ob er es ernst meinte. Als sie in sein Gesicht blickte, bezweifelte sie es.
Beide hörten einen Wagen. Daisy zog den Verdunklungsvorhang ein Stück zur Seite und entdeckte Fitz’ schwarz-cremefarbenen Rolls-Royce. Die Scheinwerfer waren durch Schlitzblenden abgedunkelt. »Dein Vater ist wieder da«, sagte sie. Leise fügte sie hinzu: »Ob wir wohl Krieg haben?«
»Gehen wir nach unten.«
»Geh schon mal vor, ich komme sofort nach.«
Nachdem Boy das Zimmer verlassen hatte, blickte Daisy in den Spiegel. Zu ihrem Erstaunen sah sie nicht anders aus als die Frau, als die sie vor einer halben Stunde das Zimmer betreten hatte. Ihr Leben war auf den Kopf gestellt worden, aber in ihrem Gesicht zeigte sich nichts davon. Daisy gab sich einen Ruck, unterdrückte die Tränen und folgte Boy ins Erdgeschoss.
Fitz war aus dem Unterhaus zurück und saß im Esszimmer. Auf den Schultern seines Fracks glänzten Regentropfen. Grout, der Butler, hatte Käse und Obst serviert, da Fitz das Dessert entgangen war. Die Familie saß am Tisch, und Grout schenkte Fitz ein Glas Claret ein. Nachdem er einen Schluck getrunken hatte, sagte er: »Es war scheußlich. Scheußlich!«
»Was ist denn geschehen, um Himmels willen?«, fragte Andy.
Fitz aß ein Eckchen Cheddarkäse, ehe er antwortete. »Chamberlain hat vier Minuten lang geredet. Es war der schlimmste Auftritt eines Premierministers, den ich je gesehen habe. Er murmelte und wand sich und sagte, dass Deutschland sich vielleicht aus Polen zurückzieht, was aber niemand glaubt. Vom Krieg sprach er nicht, auch nicht von einem Ultimatum.«
»Aber wieso?«, wollte Andy wissen.
»Er sagte, er will abwarten, bis die Franzosen sich endlich entscheiden und gemeinsam mit uns dem Deutschen Reich den Krieg erklären. Aber viele halten das für eine feige Ausrede.« Fitz trank noch einen Schluck Wein. »Als Nächster hat Arthur Greenwood gesprochen.« Greenwood war der stellvertretende Vorsitzende der Labour Party. »Als er aufstand, rief Leo Amery, ein Konservativer: ›Sprich für England, Arthur!‹ Stellt euch das vor! Allein der Gedanke, dass ein verdammter Sozialist für England spricht, wo ein konservativer Premierminister versagt hat, ist absurd! Chamberlain sah aus wie ein geprügelter Hund.«
Grout schenkte Fitz nach.
»Greenwood sagte: ›Ich frage mich, wie lange wir noch schwanken wollen‹, und das ganze Unterhaus jubelte ihm zu. Ich glaube, Chamberlain wäre am liebsten im Erdboden versunken.« Fitz nahm einen Pfirsich und zerlegte ihn mit Messer und Gabel.
»Und wie ging es aus?«, fragte Andy.
»Es wurde nichts entschieden. Chamberlain ist in die Downing Street zurückgekehrt. Der Großteil des Kabinetts sitzt allerdings in John Simons Zimmer im Unterhaus.« Sir John Simon war der Schatzkanzler. »Sie wollen den Raum erst verlassen, wenn Chamberlain den Deutschen ein Ultimatum stellt. In der Zwischenzeit tagt das Nationale Präsidium der Labour Party, und unzufriedene Hinterbänkler treffen sich in Winstons Wohnung.«
Daisy hatte stets betont, sich nicht für Politik zu interessieren, doch seit sie zu Fitz’ Familie gehörte und die Geschehnisse als Insiderin miterlebte, war ihr Interesse geweckt. Das Drama, von dem Fitz nun erzählte, fand sie faszinierend und furchterregend zugleich. »Dann muss der Premierminister handeln!«, sagte sie.
»Oh ja, gewiss«, entgegnete Fitz. »Ehe das Parlament wieder zusammentrifft – das dürfte morgen gegen Mittag der Fall sein –, wird Chamberlain meiner Ansicht nach entweder Deutschland den Krieg erklären oder von seinem Amt zurücktreten.«
Im Flur klingelte
Weitere Kostenlose Bücher