Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Hitler noch keine Antwort gegeben.
Lloyd dachte an Maud von Ulrich, die Freundin seiner Mutter in Berlin, und deren Familie. Die beiden Kinder mussten jetzt siebzehn und neunzehn sein. Er fragte sich, ob sie ebenfalls vor einem Radio saßen und angespannt auf die Nachricht lauschten, dass ihre Heimat mit England im Krieg stand.
Gegen zehn kam Lloyds Halbschwester Millie. Sie war neunzehn geworden und hatte Abe Avery geheiratet, den Bruder ihrer Freundin Naomi, einen Ledergrossisten. In einem exklusiven Bekleidungsgeschäft verdiente Millie als Verkäuferin auf Kommission gutes Geld. Sie verfolgte das Ziel, ein eigenes Geschäft zu eröffnen, und Lloyd hatte keinen Zweifel, dass sie es eines Tages schaffen würde. Zwar hätte Bernie sich für seine Tochter einen anderen Beruf gewünscht, aber Lloyd sah ihm an, wie stolz Millies Klugheit, ihr Ehrgeiz und ihre elegante Erscheinung ihn machten.
Doch heute war Millies gewohnte Selbstsicherheit wie weggeblasen. »Es war schrecklich, als du in Spanien gewesen bist«, sagte sie unter Tränen zu Lloyd. »Und Dave und Lenny sind nie wiedergekommen. Jetzt müssen du und mein Abie in den Krieg, und wir Frauen müssen jeden Tag auf die Nachrichten warten und uns die ganze Zeit Sorgen machen, ob ihr schon tot seid.«
»Dein Cousin Keir wird auch eingezogen«, warf Ethel ein. »Er ist jetzt achtzehn.«
»In welchem Regiment war mein richtiger Vater?«, fragte Lloyd seine Mutter.
»Ach, das ist doch unwichtig.« Ethel sprach nur sehr ungern über Lloyds leiblichen Vater, vielleicht weil sie Bernie nicht kränken wollte.
Doch Lloyd wollte es wissen. »Für mich spielt es eine Rolle.«
Mit unnötigem Schwung warf Ethel eine geschälte Kartoffel in eine Schüssel mit Wasser. »Er war bei den Welsh Rifles.«
Lloyd konnte es kaum glauben. »Bei meinem Regiment? Warum hast du mir das nie gesagt?«
»Was vorbei ist, ist vorbei.«
Lloyd wusste, dass es noch einen anderen Grund für Ethels Wortkargheit geben musste. Er nahm an, dass sie bereits schwanger gewesen war, als sie geheiratet hatte. Ihm selbst war das ziemlich egal, aber in Ethels Generation galt so etwas als schändlich. Dennoch hakte er nach. »War mein Vater Waliser?«
»Ja.«
»Aus Aberowen?«
»Nein.«
»Von wo dann?«
Ethel seufzte. »Seine Eltern sind oft umgezogen – das hatte mit der Arbeit seines Vaters zu tun –, aber ursprünglich kamen sie aus Swansea, soviel ich weiß. Bist du jetzt zufrieden?«
Lloyds Tante Mildred kam mit ihrem jüngeren Sohn Keir von der Kirche. Mildred war eine elegante Frau mittleren Alters, hübsch bis auf die vorstehenden Vorderzähne. Sie trug einen teuren Hut aus ihrer eigenen Kollektion, denn sie war Putzmacherin mit einem eigenen kleinen Atelier. Mildred hatte zwei Töchter aus erster Ehe, Enid und Lillian. Beide waren Ende zwanzig und verheiratet und hatten eigene Kinder. Mildreds ältester Sohn Dave war in Spanien gefallen.
Lloyd ließ den Blick über seine Familie schweifen – Mutter, Stiefvater, Halbschwester, Onkel, Tante, Cousin. Wehmut überkam ihn. Er wollte sie nicht verlassen, um in der Fremde zu sterben.
Er schaute auf die Uhr, ein Edelstahlmodell mit quadratischem Zifferblatt, das Bernie ihm zum bestandenen Collegeabschluss geschenkt hatte. Es war elf. Im Radio verkündete der Nachrichtensprecher Alvar Liddell, in Kürze werde eine Erklärung des Premierministers erwartet. Dann wurde ernste klassische Musik gespielt.
»Jetzt seid mal alle leise«, sagte Ethel. »Hinterher mache ich euch Tee.«
Es wurde still in der Küche.
Dann kündigte Liddell den Premierminister an, Neville Chamberlain.
Der Beschwichtiger des Faschismus, dachte Lloyd. Der Mann, der Hitler die Tschechoslowakei überlassen hatte, der hartnäckig jede Hilfe für die gewählte spanische Regierung verweigert hatte, auch nachdem unbestreitbar feststand, dass die Deutschen und Italiener den Rebellen Waffen lieferten. Würde Chamberlain seine Appeasement-Politik weiterverfolgen und erneut nachgeben?
Lloyd bemerkte, dass seine Eltern sich bei den Händen hielten; Ethels schmale Finger drückten sich in Bernies Handfläche.
Wieder blickte Lloyd auf die Armbanduhr. Es war Viertel nach elf.
Dann hörte er den Premierminister sagen: »Ich spreche zu Ihnen aus dem Kabinettszimmer in der Downing Street.«
Chamberlains Stimme war dünn und präzise. Er klingt wie ein Schulmeister, dachte Lloyd, aber was wir brauchen, ist ein Krieger.
»Heute Morgen hat der britische Botschafter in Berlin der
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