Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
gut.«
Daisy schaute ihn an und hoffte auf einen Versöhnungskuss, aber Boy saß nur still da und blickte ins Leere.
Fitz kehrte um halb eins zurück. Sein Abendanzug war tropfnass. »Das Zaudern hat ein Ende«, verkündete er. »Chamberlain lässt den Deutschen morgen früh ein Ultimatum überbringen. Wenn sie nicht bis Mittag mit dem Rückzug ihrer Truppen aus Polen beginnen – elf Uhr nach unserer Zeit –, herrscht zwischen uns Kriegszustand.«
Am Sonntag hörte es auf zu regnen, und die Sonne kam heraus. Lloyd Williams kam es vor, als wäre London sauber gewaschen worden.
Am Morgen versammelte sich die Familie Williams in der Küche des Aldgater Hauses auf der Nutley Street. Sie waren nicht verabredet; sie kamen ganz spontan. Sie wollten zusammen sein, vermutete Lloyd, falls England dem Großdeutschen Reich den Krieg erklärte.
Lloyd hatte den brennenden Wunsch, die Faschisten zu bekämpfen; zugleich graute ihm bei dem Gedanken an einen Krieg. In Spanien hatte er so viel Leid und Blutvergießen gesehen, dass es für den Rest seines Lebens reichte. Nie wieder wollte er an einer Schlacht teilnehmen. Sogar das Boxen hatte er aufgegeben. Dennoch hoffte er von ganzem Herzen, dass Chamberlain nicht nachgab. In Deutschland hatte er mit eigenen Augen gesehen, was Faschismus bedeutete. Auch in Spanien ermordete das Franco-Regime zu Tausenden die früheren Anhänger der gewählten Regierung, und das Schulwesen lag wieder fest in der Hand der Kirche.
Im Sommer war Lloyd gleich nach dem Collegeabschluss bei den Welsh Rifles eingetreten. Als früheres Mitglied des Officer Training Corps hatte er den Dienstgrad eines Lieutenants erhalten. Die Army bereitete sich zielstrebig auf den Krieg vor; nur mit Mühe hatte Lloyd an diesem Wochenende vierundzwanzig Stunden Urlaub erhalten, damit er seine Mutter besuchen konnte. Wenn der Premierminister heute den Krieg erklärte, konnte er, Lloyd, unter den Ersten sein, die in den Kampf zogen.
Billy Williams kam nach dem Frühstück ins Haus. Lloyd und Bernie saßen am Radio; auf dem Küchentisch lagen aufgeschlagene Zeitungen, und Ethel schmorte eine Schweinekeule fürs Mittagessen. Onkel Billy wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als er Lloyd in Uniform sah. »Ich muss an unseren Dave denken, darum geht mir das so nahe«, sagte er. »Wenn er aus Spanien zurückgekommen wäre, hätten sie ihn jetzt eingezogen.«
Lloyd hatte seinem Onkel nie erzählt, wie Dave wirklich gestorben war. Er behauptete, die Einzelheiten nicht zu kennen; Dave sei bei Belchite gefallen und liege dort vermutlich auch begraben. Onkel Billy hatte im Großen Krieg gekämpft und wusste, wie achtlos auf dem Schlachtfeld mit den Leichen umgegangenwurde; das machte seinen Schmerz vermutlich noch schlimmer. Seine große Hoffnung war, Belchite eines Tages, wenn Spanien wieder frei war, zu besuchen und seinem Sohn, der im Kampf für die Freiheit gefallen war, die letzte Ehre zu erweisen.
Auch Lenny Griffiths war nie aus Spanien zurückgekehrt. Niemand konnte sagen, wo er begraben lag. Es war durchaus möglich, dass er noch lebte und in einem francistischen Gefangenenlager festgehalten wurde.
In den Nachrichten wurde eine Meldung über die Erklärung Chamberlains vor dem Unterhaus am Abend zuvor gebracht, aber nichts Neues.
»Ihr macht euch keine Vorstellung, was danach los war«, sagte Billy.
»Nur dass die BBC so etwas nicht meldet«, erwiderte Lloyd. »Man ist dort sehr staatstragend.«
Sowohl Billy als auch Lloyd gehörten dem Nationalen Präsidium der Labour Party an – Lloyd als Vertreter der Jugendorganisation. Nach seiner Heimkehr aus Spanien hatte er sein Studium in Cambridge weitergeführt. Nach seinem Abschluss war er durchs Land gezogen, hatte vor Labour-Ortsvereinen gesprochen und den Leuten davon berichtet, wie die gewählte spanische Staatsführung von der faschistenfreundlichen Regierung Großbritanniens im Stich gelassen worden war. Erreicht hatte er dadurch nichts – Francos antidemokratische Rebellen hatten dennoch gesiegt –, aber Lloyd war besonders bei den jungen Linken zu einer bekannten Figur geworden, beinahe zu einem Helden, was ihm den Weg ins Parteipräsidium geebnet hatte.
Aus diesem Grund hatten Onkel Billy und Lloyd an der gestrigen Sitzung teilgenommen. Sie wussten, dass Premierminister Chamberlain sich dem Druck des Kabinetts gebeugt und Hitler ein Ultimatum gestellt hatte. Jetzt warteten sie wie auf heißen Kohlen, was weiter geschehen würde.
Soviel sie wussten, hatte
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