Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
noch, dass man Gewalt nicht mit Gewalt beantworten darf?«
»Absolut«, erklärte Maud. »Friedlicher Widerstand ist unsere einzige Hoffnung.«
Walter sagte: »Die SPD hat einen eigenen Kampfverband, das Reichsbanner, aber er ist schwach. Außerdem hat eine kleine Gruppe von Sozialdemokraten für gewaltsamen Widerstand gegen die Nazis plädiert, wurde jedoch überstimmt.«
»Vergiss nicht, Lloyd«, sagte Maud, »dass die Nazis Polizei und Reichswehr auf ihrer Seite haben.«
Walter schaute auf die Uhr. »Wir müssen los.«
Unvermittelt fragte Maud: »Warum sagst du nicht einfach ab, Walter?«
Er blickte sie verwundert an. »Absagen? Aber es wurden schonsiebenhundert Karten verkauft, Maud. Da kann ich doch nicht einfach …«
»Zum Teufel mit den Karten«, fiel Maud ihm ins Wort. »Ich mache mir Sorgen um dich .«
»Das brauchst du nicht. Die Karten wurden mit Bedacht vergeben. Es werden keine Unruhestifter im Saal sein.«
Lloyd hatte den Eindruck, als wäre Walter keineswegs so überzeugt, wie er sich gab.
Walter fuhr fort: »Außerdem kann ich die Leute, die bereit sind, eine demokratische Veranstaltung zu besuchen, unmöglich im Stich lassen. Sie sind unsere ganze Hoffnung.«
»Du hast recht.« Maud seufzte und schaute zu Ethel. »Aber du und Lloyd, ihr solltet lieber zu Hause bleiben. Egal, was Walter sagt, es ist gefährlich. Und es geht ja nicht um euer Land.«
»Der Sozialismus ist international«, widersprach Ethel. »Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Maud, aber ich bin hier, um die deutsche Politik aus erster Hand zu erleben, und das werde ich mir nicht nehmen lassen.«
»Also gut«, lenkte Maud ein. »Aber die Kinder bleiben hier.«
Erik, der Sohn, verkündete: »Ich will sowieso nicht mit.«
Carla sah enttäuscht aus, schwieg aber.
Walter, Maud, Ethel und Lloyd stiegen in Walters kleines Auto. Lloyd war nervös und aufgeregt zugleich. Nun würde er Politik aus einem Blickwinkel zu sehen bekommen, von dem seine Freunde daheim nur träumen konnten. Und sollte es zu einem Kampf kommen, so hatte er keine Angst davor.
Sie fuhren nach Osten über den Alexanderplatz und in ein Viertel mit Arbeiterhäusern und kleinen Geschäften, darunter einige mit jüdischen Eigentümern, wie die Ladenschilder mit hebräischer Aufschrift erkennen ließen. Die SPD war eine Arbeiterpartei, aber wie die britische Labour Party hatte auch sie wohlhabende Unterstützer. Walter von Ulrich zählte als Mitglied aus der gehobenen Mittelschicht zur Minderheit.
Schließlich hielt der Wagen vor einer Markise, auf der »Volksbühne« stand. Draußen hatte sich bereits eine Schlange gebildet. Walter ging zur Tür und winkte der wartenden Menge zu, die ihn bejubelte. Lloyd und die anderen folgten ihm.
Walter schüttelte einem ernst dreinblickenden jungen Mannvon vielleicht achtzehn Jahren die Hand. »Das ist Wilhelm Frunze«, sagte er, »der hiesige Parteisekretär.« Frunze war einer jener Jungen, die aussahen, als wären sie schon als Erwachsene geboren worden. Er trug einen Blazer mit Knopftaschen, wie er vor zehn Jahren in Mode gewesen war.
Frunze zeigte Walter, wie man die Theatertüren von innen schließen konnte. »Sobald das Publikum Platz genommen hat«, sagte er, »schließen wir ab, und kein Unruhestifter kommt mehr rein.«
»Ausgezeichnet«, sagte Walter.
Frunze führte sie in den Saal. Walter stieg auf die Bühne und begrüßte einige der anderen Reichstagskandidaten, die bereits erschienen waren. Dann kamen die Zuschauer und setzten sich. Frunze zeigte Maud, Ethel und Lloyd die Plätze in der ersten Reihe, die für sie reserviert waren.
Zwei Jungen traten auf sie zu. Der Jüngere war etwa vierzehn Jahre alt, aber schon größer als Lloyd. Er begrüßte Maud ausgesprochen höflich, verbeugte sich sogar. Maud drehte sich zu Ethel um und sagte: »Das ist Werner Franck, der Sohn meiner Freundin Monika.« Sie wandte sich an Werner. »Weiß dein Vater, dass du hier bist?«
»Ja. Er hat gesagt, ich soll selbst herausfinden, was es mit den Sozialdemokraten auf sich hat.«
»Für einen Nazi ist er sehr offen«, sagte Maud.
Lloyd hielt das für einen ziemlich plumpen Kommentar, zumal gegenüber einem Vierzehnjährigen, aber Werner konnte es durchaus mit Maud aufnehmen. »Mein Vater glaubt nicht wirklich an den Nationalsozialismus«, sagte er, »aber er meint, dass Hitler gut für die deutsche Wirtschaft ist.«
Entrüstet warf Wilhelm Frunze ein: »Wie kann es gut für die Wirtschaft sein, wenn man Tausende von
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