Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Menschen ins Gefängnis steckt? Von der Ungerechtigkeit mal ganz abgesehen – im Knast kann man nichts erwirtschaften.«
»Das stimmt allerdings«, erwiderte Werner. »Trotzdem kommen Hitlers Maßnahmen bei der Bevölkerung gut an.«
»Weil die Leute glauben, dass Hitler sie vor einer bolschewistischen Revolution gerettet hat«, sagte Frunze. »Die Nazi-Presse hat ihnen weisgemacht, die Kommunisten wären drauf und dran, mordend und brennend durch das Land zu ziehen.«
Der Junge, der Werner begleitete, war kleiner, aber älter. Nun sagte er: »Dabei sind es die Braunhemden und nicht die Kommunisten, die Leute in Keller verschleppen und ihnen mit Knüppeln die Knochen brechen.« Er sprach fließend Deutsch, aber mit einem leichten Akzent, den Lloyd nicht einordnen konnte.
»Oh, entschuldigen Sie bitte«, sagte Werner. »Ich habe ganz vergessen, Ihnen Wladimir Peschkow vorzustellen. Er geht auf meine Schule. Wir nennen ihn Wolodja.«
Lloyd stand auf, um dem Jungen die Hand zu schütteln. Wolodja war ungefähr so alt wie Lloyd, ein gut aussehender junger Mann mit offenen blauen Augen.
»Ich kenne Wolodja«, sagte Wilhelm Frunze. »Ich gehe auch aufs Ranke-Gymnasium.«
»Wilhelm ist unser Schulgenie«, sagte Wolodja. »Er hat die besten Noten in Physik, Chemie und Mathematik.«
»Das stimmt«, bestätigte Werner.
Maud musterte Wolodja von Kopf bis Fuß. »Peschkow?«, fragte sie dann. »Dein Vater heißt nicht zufällig Grigori?«
»Doch, Frau von Ulrich. Er ist Militärattaché an der sowjetischen Botschaft in Berlin.«
Wolodja war also Russe. Und er sprach perfekt Deutsch, wie Lloyd ein wenig neidvoll feststellen musste. Der Grund dafür war zweifellos der, dass er hier lebte.
»Ich kenne deine Eltern gut«, sagte Maud zu Wolodja. Sie kannte alle Diplomaten in Berlin, wie Lloyd bereits festgestellt hatte. Das brachte ihr Beruf mit sich.
Frunze schaute auf die Uhr. »Es wird Zeit.« Er stieg auf die Bühne und bat die Versammelten um Ruhe.
Stille senkte sich über den Saal.
Frunze verkündete, dass die Kandidaten kurz reden und dann Fragen aus dem Publikum entgegennehmen würden. Nur Parteimitglieder hätten Eintrittskarten erhalten, fügte er hinzu, und die Türen seien geschlossen. Man sei unter Freunden; deshalb könne jeder frei sprechen.
Lloyd hatte das Gefühl, bei der Versammlung eines Geheimbundes dabei zu sein. Auf jeden Fall entsprach das hier nicht seiner Vorstellung von einer freiheitlichen Demokratie.
Walter sprach als Erster. Er war kein Demagoge, wie Lloydbemerkte, und verzichtete völlig auf rhetorische Floskeln. Aber er schmeichelte den Zuhörern und sagte ihnen, wie klug und gut informiert sie seien, da sie die Komplexität politischer Fragen verstünden.
Walter hatte gerade erst ein paar Minuten geredet, als plötzlich ein Braunhemd auf die Bühne trat.
Lloyd fluchte. Wie war der Kerl hereingekommen? Er kam aus den Seitenflügeln. Jemand musste eine Nebentür geöffnet haben.
Der Mann war ein großer, brutal aussehender Schlägertyp mit Armeehaarschnitt. Er trat an den Bühnenrand und brüllte: »Das hier ist eine aufrührerische Versammlung! Kommunisten und anderes subversives Gesindel sind in Deutschland nicht mehr willkommen! Die Versammlung ist geschlossen!«
Die selbstbewusste Arroganz des Mannes brachte Lloyds Blut zum Kochen. Er wünschte, er könnte sich diesen Ochsen mal in den Boxring holen.
Wilhelm Frunze sprang auf, stellte sich vor den Eindringling und fuhr ihn an: »Mach, dass du hier rauskommst!«
Der Mann stieß ihm kräftig vor die Brust. Frunze taumelte zurück, stolperte und stürzte zu Boden.
Nun stand auch das Publikum. Einige brüllten wütend ihren Zorn und Protest hinaus; andere schrien vor Angst.
Weitere Braunhemden kamen aus den Seitenflügeln in den Saal geströmt.
Der Mann, der Frunze zu Boden gestoßen hatte, brüllte der Versammlung zu: »Raus mit euch!« Die anderen Braunhemden nahmen den Ruf auf: »Raus! Raus! Raus!« Inzwischen waren gut zwanzig Braunhemden erschienen, und es kamen immer mehr. Einige hielten Polizeischlagstöcke oder Knüppel in der Hand. Lloyd sah auch einen Hockeyschläger, einen hölzernen Vorschlaghammer, sogar ein Stuhlbein. Die Männer marschierten auf der Bühne hin und her, grinsten böse und fuchtelten mit ihren Waffen, während sie weitergrölten. Lloyd bezweifelte keinen Augenblick, dass sie nur darauf warteten, losschlagen zu können. Instinktiv hatten er, Werner und Wolodja sich schützend vor Ethel und Maud
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