Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Jugendherberge zurück. Sie wuschen sich, zogen sich um und machten sich auf die Suche nach einem Lokal, um einen Happen zu essen. Doch in dem kleinen Ort gab es nur das Café, das von der mürrischen Besitzerin geführt wurde. Die Mädchen aßen Omelette mit Schinken. Anschließend gingen sie in die Dorfkneipe, bestellten sich Bier und sprachen die anderen Gäste freundlich an, doch niemand wollte mit ihnen reden. Das an sich war schon verdächtig. Zwar waren die Leute Fremden gegenüber grundsätzlich misstrauisch, denn jeder konnte ein Nazi-Spitzel sein, aber dass in einer Kneipe wie dieser kein männlicher Gast mit zwei jungen Mädchen flirtete, war seltsam.
Carla und Frieda kehrten früh in die Jugendherberge zurück. Carla wusste nicht, was sie jetzt noch unternehmen konnten, um Licht in das Dunkel zu bringen. Morgen würden sie mit leeren Händen nach Hause zurückkehren. Es erschien ihr unfassbar, dass sie von diesen schrecklichen Morden wusste, aber nichts, rein gar nichts tun konnte. Sie fühlte sich hilflos wie noch nie.
Dann kam ihr der Gedanke, dass Frau Schmidt – falls das wirklich ihr Name war – möglicherweise noch einmal über ihre Besucherinnen nachgedacht hatte. Anfangs hatte die Frau ihnen ihre Geschichte vielleicht abgekauft, aber was, wenn sie später misstrauisch geworden war und die Polizei angerufen hatte, nur um sicherzugehen? In diesem Fall wären Carla und Frieda leicht zu finden. An diesem Abend übernachteten nur fünf junge Leute in der Jugendherberge, und sie waren die einzigen Mädchen. Ängstlich lauschte Carla auf das Unheil verkündende Klopfen an der Tür.
Sollte man sie und Frieda verhören, würden sie zumindest einen Teil der Wahrheit preisgeben: dass Friedas Bruder und CarlasPatensohn in Akelberg gestorben waren und dass sie ihre Gräber besuchen wollten oder zumindest den Ort, an dem sie gestorben waren, um ihrer zu gedenken. Die örtliche Polizei würde das vielleicht auch schlucken. Doch sollten sie in Berlin nachfragen, würden sie rasch von der Verbindung zu Walter von Ulrich und Werner Franck erfahren, zwei Männer, die von der Gestapo verhört worden waren, weil sie Fragen über Akelberg gestellt hatten. Und dann steckten Carla und Frieda in großen Schwierigkeiten.
Als sie sich gerade fürs Bett fertig machten, klopfte es an der Tür.
Carlas Herz setzte einen Schlag aus. Sie dachte daran, was die Gestapo mit ihrem Vater angestellt hatte. Sie wusste, dass sie keiner Folter standhalten würde. Sie würde den Namen jedes Swing Kids nennen, das sie kannte.
Frieda, die weniger Fantasie besaß, sagte: »Jetzt schau doch nicht so ängstlich drein.« Und sie öffnete die Tür.
Es war nicht die Gestapo, sondern eine junge, hübsche blonde Frau. Es dauerte einen Moment, bis Carla Schwester König ohne ihre Uniform erkannte.
»Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte sie. Sie war sichtlich nervös, außer Atem und den Tränen nahe.
Frieda bat sie herein. Schwester König setzte sich auf ein Bett und wischte sich die Augen mit dem Ärmel ab. »Ich kann das nicht mehr für mich behalten«, sagte sie.
Carla schaute Frieda an. Beide dachten das Gleiche. »Was können Sie nicht mehr für sich behalten?«, fragte Carla.
»Bitte, sagt Ilse zu mir.«
»Gern. Ich bin Carla, und das ist Frieda. Was bedrückt dich, Ilse?«
Ilse sagte so leise, dass die Mädchen sie kaum verstehen konnten: »Wir ermorden sie.«
Carla stockte der Atem. »Im Krankenhaus?«
Ilse nickte. »Die armen Menschen, die in den grauen Bussen kommen. Kinder, sogar Babys. Alte Leute. Großmütter. Sie alle sind fast hilflos … Manchmal sabbern sie vor sich hin oder machen in die Hose, aber sie können ja nichts dafür … Einige von ihnen sind wirklich süß und unschuldig, aber das rettet sie nicht … Wir bringen sie alle um.«
»Und wie?«
»Mit einer Morphium-Scopolamin-Injektion.«
Carla nickte. Das war ein gebräuchliches Betäubungsmittel, in Überdosis allerdings tödlich. »Was ist mit der Sonderbehandlung, die sie angeblich bekommen sollen?«
Ilse schüttelte den Kopf. »Die gibt es nicht … Jedenfalls nicht so, wie ihr es euch wahrscheinlich vorstellt.«
»Nur damit ich das richtig verstehe«, sagte Carla. »Ihr tötet alle Patienten, die zu euch gebracht werden?«
»Alle.«
»Sobald sie ankommen?«
»Innerhalb eines Tages, spätestens nach zwei.«
Genau das hatte Carla vermutet; dennoch traf es sie wie ein Schlag, und ihr wurde schlecht.
»Sind jetzt auch Patienten dort?«
»Keine
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