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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Lebenden«, antwortete Ilse. »Den letzten haben wir heute Nachmittag die Spritzen gegeben. Deshalb hatte Frau Schmidt ja solche Angst, als ihr gekommen seid.«
    »Warum erschwert ihr nicht einfach den Zugang zum Gebäude?«
    »Die Verwaltung ist der Meinung, Wachen und Stacheldraht um die Klinik würden nur Misstrauen schüren. Außerdem hat bis heute noch niemand versucht, bei uns einzudringen.«
    »Wie viele Leute sind heute gestorben?«
    »Zweiundfünfzig.«
    Carla lief ein Schauder über den Rücken. »Die Klinik hat allein heute zweiundfünfzig Menschen umgebracht? Am Nachmittag, als wir dort waren?«
    »Ja.«
    »Dann sind sie jetzt alle tot?«
    Ilse nickte.
    Kurz entschlossen sagte Carla: »Ich will das sehen.«
    Ilse schaute sie ängstlich an. »Was meinst du damit?«
    »Ich will in die Klinik und die Leichen sehen.«
    »Sie werden bereits verbrannt.«
    »Dann will ich das sehen. Kannst du uns irgendwie reinschleusen?«
    »Heute Nacht?«
    »Sofort.«
    »O Gott!«
    »Du musst das nicht tun«, beruhigte Carla sie. »Es war schon tapfer genug von dir, dass du mit uns gesprochen hast. Wenn du es dabei belassen willst, ist das in Ordnung. Aber wenn wir dem Ganzen ein Ende bereiten wollen, brauchen wir Beweise.«
    »Beweise?«
    »Ja. Viele Verantwortliche schämen sich für dieses Projekt. Deshalb wird es ja geheim gehalten. Die Nazis wissen, dass die deutsche Bevölkerung die Ermordung von Kindern nicht widerspruchlos hinnehmen würde. Aber die Leute reden sich lieber ein, dass so was einfach nicht passiert. Dann fällt es ihnen leichter, wegzuschauen und die Sache als haltloses Gerücht abzutun. Deshalb müssen wir es den Leuten beweisen, egal wie.«
    »Ich verstehe.« Ein entschlossener Ausdruck erschien auf Ilses hübschem Gesicht. »Also gut, ich bringe euch rein.«
    Carla stand auf. »Wie kommst du normalerweise dorthin?«
    »Mit dem Fahrrad«, antwortete Ilse. »Es steht draußen.«
    »Dann radeln wir alle.«
    Sie gingen hinaus. Inzwischen war die Nacht angebrochen. Der Himmel war leicht bewölkt, und die Sterne leuchteten nur schwach. Mit eingeschaltetem Licht fuhren sie aus der Stadt und den Hügel hinauf. Als sie in Sichtweite der Klinik kamen, schalteten sie die Lichter aus, stiegen ab und schoben die Räder. Ilse führte die Mädchen über einen Waldweg, der zur Rückseite des Gebäudes führte.
    Carla stieg ein unangenehmer Geruch in die Nase. Sie schnüffelte.
    Ilse flüsterte: »Das ist der Verbrennungsofen.«
    Carla schauderte.
    Sie versteckten die Fahrräder im Unterholz und schlichen sich zur Hintertür. Sie war unverschlossen. Ilse und die Mädchen gingen hinein.
    Die Flure waren hell erleuchtet. Es gab keine dunklen Ecken. Carla fröstelte. Was, wenn ihnen jemand entgegenkam? Ihre Kleidung würde sie sofort als Eindringlinge verraten. Was sollten sie dann tun?
    Leise ging Ilse durch den Flur, bog um eine Ecke und öffneteeine Tür. »Hier rein«, raunte sie und ging voraus. Die Mädchen folgten ihr.
    Frieda stieß einen leisen Entsetzensschrei aus und schlug die Hand vor den Mund.
    Carla schnappte nach Luft. »O Gott«, flüsterte sie.
    In einem großen, kalten Raum lagen ungefähr dreißig Leichen, alle nackt und mit dem Gesicht nach oben. Einige der Toten waren dick, andere dünn; einige waren alt, andere noch Kinder, und da war sogar ein Baby von höchstens einem Jahr. Einige lagen mit verrenkten Gliedmaßen da, aber die meisten sahen normal aus.
    Jede Leiche trug ein kleines Pflaster auf dem linken Oberarm, wo die Nadel eingedrungen war.
    Carla hörte Frieda leise weinen.
    »Wo sind die anderen?«, flüsterte sie.
    »Schon im Ofen«, antwortete Ilse.
    Plötzlich hörten sie Stimmen hinter der großen Doppeltür am anderen Ende des Raums.
    »Raus!«, zischte Ilse. »Schnell!«
    Sie huschten zurück in den Flur. Carla schloss die Tür bis auf einen Spalt und spähte hindurch. Sie sah Römer und einen weiteren Pfleger eine Rollbahre durch die Tür schieben.
    Die Männer schauten nicht in Carlas Richtung. Sie redeten über Fußball. Carla hörte Römer sagen: »Es ist jetzt neun Jahre her, seit wir das letzte Mal deutscher Meister waren. Damals haben wir Eintracht Frankfurt zwei zu null weggeputzt.«
    »Ja, aber Bayern war ein Judenverein, darum haben sie seitdem nichts mehr gewonnen.«
    Carla erkannte, dass die Männer über Bayern München sprachen.
    »Glaub mir, dieses Jahr wird Schalke Meister«, sagte Römer. »Rapid Wien hat keine Chance.«
    Die beiden Männer gingen zu einem Tisch, auf

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