Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
dem eine dicke tote Frau lag. Sie packten sie an Schultern und Knien und schwangen sie auf die Bahre, wobei sie vor Anstrengung schnauften.
Dann fuhren sie mit der Bahre zum nächsten Tisch und wuchteten eine zweite Leiche auf die erste.
Nachdem sie schließlich einen dritten Toten aufgeladen hatten, schoben sie die Bahre hinaus.
»Ich gehe den beiden hinterher«, raunte Carla.
Sie durchquerte die Leichenhalle und ging zu der Doppeltür. Frieda und Ilse folgten ihr. Sie gelangten in einen Teil der Anlage, der eher an eine Fabrik als an ein Krankenhaus erinnerte. An braun gestrichenen Wänden standen Kartons und Werkzeugregale auf dem Betonfußboden.
Die drei jungen Frauen spähten um die Ecke.
Sie sahen einen großen Raum mit grellem Licht und tiefen Schatten, der wie eine Garage aussah. Es war warm, und der Geruch erinnerte an eine Küche. In der Mitte des Raums stand eine Stahlkiste, groß genug, dass ein Auto hineingepasst hätte. Ein dickes Metallrohr führte von der Kiste nach oben und durchs Dach. Carla erkannte, dass sie einen Verbrennungsofen vor sich hatte.
Die beiden Männer hoben eine Leiche von der Bahre und trugen sie zu einem Förderband. Römer drückte einen Knopf an der Wand. Das Förderband setzte sich in Bewegung; eine Tür ging auf, und die Leiche verschwand im Ofen.
Dann legten sie die nächste Leiche auf das Band.
Carla hatte genug gesehen.
Sie drehte sich um und winkte den anderen, ihr zurückzufolgen. In ihrer Hast stieß Frieda gegen Ilse, die unwillkürlich aufschrie. Die drei Mädchen erstarrten.
Sie hörten Römer sagen: »Was war das?«
»Ein Geist«, sagte der andere lachend.
Römers Stimme zitterte. »Über so was macht man keine Scherze.«
»Nimmst du jetzt die Beine von dem hier oder nicht?«
»Jaja, schon gut.«
Die drei Mädchen liefen zur Leichenhalle zurück. Als Carla die übrigen Toten sah, erfasste sie tiefe Trauer über das Schicksal des kleinen Kurt. Auch er hatte hier gelegen, ein Pflaster auf dem Arm; auch ihn hatten sie auf das Förderband geworfen und wie ein Stück Müll entsorgt. Mit Tränen in den Augen dachte Carla: Aber du bist nicht vergessen, Kurt.
Sie schlichen zurück in den Flur. Als sie den Weg zur Hintertür einschlugen, hörten sie Schritte und die Stimme von Frau Schmidt. »Warum brauchen die beiden Kerle so lange?«
Die Mädchen huschten durch den Flur und zur Tür hinaus. Inzwischen war der Mond herausgekommen und übergoss den Park mit silbrigem Licht. Zweihundert Meter weiter konnte Carla das Unterholz sehen, wo sie ihre Fahrräder versteckt hatten.
Frieda kam als Letzte heraus. Vor lauter Eile ließ sie die Tür zuknallen.
Carla erschrak. Frau Schmidt hatte das Geräusch mit Sicherheit gehört und würde nachsehen. Die Mädchen schafften es vielleicht nicht bis ins schützende Unterholz, bevor die Frau die Tür aufmachte. Sie mussten sich verstecken. »Hier lang«, zischte Carla und lief um die Ecke des Gebäudes. Die anderen folgten ihr.
Sie drückten sich flach an die Wand. Carla hörte, wie die Tür aufging, und hielt den Atem an.
Es folgte eine lange Pause. Dann murmelte Frau Schmidt etwas Unverständliches, und die Tür fiel wieder ins Schloss.
Carla lugte um die Ecke. Niemand zu sehen.
Die drei Mädchen rannten über den Rasen und zu ihren Fahrrädern, schoben sie über den Waldweg und gelangten schließlich wieder auf die Straße. Sie stiegen auf, schalteten die Dynamos ein und radelten los. Trotz der entsetzlichen Eindrücke verspürte Carla ein Hochgefühl. Sie hatten es tatsächlich geschafft!
Doch als sie sich dem Ort näherten, wich das Gefühl des Triumphs praktischeren Erwägungen. Was genau hatten sie eigentlich erreicht? Was sollten sie als Nächstes tun?
Sie mussten jemandem erzählen, was sie gesehen hatten. Aber wem? Carla wusste es nicht. Und würde man ihnen überhaupt glauben? Je länger Carla darüber nachdachte, desto mehr bezweifelte sie es. Es war schlichtweg zu ungeheuerlich.
Als sie die Jugendherberge erreichten und von den Rädern stiegen, sagte Ilse: »Gott sei Dank ist das vorbei. Ich habe noch nie solche Angst gehabt.«
»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Carla.
»Was meinst du damit?«
»Es wird erst vorbei sein, wenn sie dieses angebliche Krankenhaus schließen – und alle anderen Kliniken dieser Art.«
»Wie wollt ihr das schaffen?«
»Wir brauchen dich«, sagte Carla. »Du bist der Beweis.«
»Ich hatte befürchtet, dass du das sagst.«
»Du musst morgen mit uns nach Berlin fahren.
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