Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
salutierte und schloss die Tür hinter sich.
»Willkommen in der Heimat, Genosse Hauptmann.« Lemitow trat um seinen Schreibtisch herum. »Unter uns … Sie haben in Berlin Großartiges geleistet. Ich danke Ihnen.«
»Ich fühle mich geehrt, Genosse Oberst«, erwiderte Wolodja. »Aber warum sagen Sie ›unter uns‹?«
»Weil Sie Stalin widersprochen haben.« Er hob die Hand, um einem Protest zuvorzukommen. »Stalin weiß natürlich nicht, dass Sie das waren. Trotzdem, die Leute hier sind nervös. Nach den Säuberungen will niemand etwas mit einem Mann zu tun haben, der plötzlich auf der falschen Seite stehen könnte.«
»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte Wolodja. »Hätte ich die Informationen fälschen sollen?«
Lemitow schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Sie haben genau das Richtige getan, verstehen Sie mich nicht falsch. Und ich habe Sie beschützt. Sie sollten nur nicht damit rechnen, hier als Held gefeiert zu werden.«
»Jawohl«, sagte Wolodja. Offenbar standen die Dinge hier schlimmer, als er erwartet hatte.
»Und Sie haben jetzt endlich Ihr eigenes Büro, drei Türen weiter. Vermutlich werden Sie ungefähr einen Tag brauchen, bis Sie wieder auf dem Laufenden sind.«
Wolodja wertete diese Bemerkung als Zeichen, dass er entlassen war. »Jawohl, Genosse«, sagte er, salutierte und ging.
Sein neues Büro war nicht gerade luxuriös – ein kleiner Raum ohne Teppich –, aber er hatte es für sich allein. Er wusste nicht, wie der deutsche Angriff verlief, da er erst einmal zu seiner Familie gewollt hatte. Nun schob er seine Enttäuschung beiseite und machte sich daran, die Frontberichte der ersten Woche zu lesen.
Mit jeder Zeile wuchs sein Entsetzen.
Der Überfall hatte die Rote Armee vollkommen überrascht.
Das hätte eigentlich unmöglich sein sollen, aber die Beweise lagen hier auf seinem Tisch.
Am 22. Juni, dem Tag des deutschen Angriffs, hatten viele Fronteinheiten der Roten Armee nicht einmal scharfe Munition gehabt!
Und das war noch längst nicht alles. Sowjetische Flugzeuge hatten ohne Tarnung säuberlich aufgereiht auf den Startbahnen gestanden; die Luftwaffe hatte schon in den ersten Stunden mehr als 1200 sowjetische Kampfflugzeuge zerstört. Armeeeinheiten waren den Deutschen ohne angemessene Bewaffnung entgegengeworfen worden, ohne Luftunterstützung und nachrichtendienstliche Informationen. Sie waren vollständig vernichtet worden.
Das Schlimmste war jedoch Stalins nach wie vor geltender Befehl, die Rote Armee dürfe auf keinen Fall zurückweichen. Jede Einheit musste bis zum letzten Mann kämpfen, und die Offiziere hatten den Befehl, sich zu erschießen, um einer Gefangennahme zu entgehen. Den Truppen wurde nicht erlaubt, sich in anderen, besseren Verteidigungsstellungen neu zu formieren – mit der Folge, dass jede Niederlage sich in ein Massaker verwandelte.
Die Rote Armee blutete aus, an Männern und Material.
Stalin hatte die Warnung des Spions in Tokio und die Bestätigung von Werner Franck geflissentlich ignoriert. Selbst als der deutsche Angriff schon rollte, hatte Stalin zunächst darauf beharrt, es sei nur eine Provokation, durchgeführt von einer Handvoll Offiziere und ohne Hitlers Wissen, der dem Ganzen sofort ein Ende bereiten würde, sobald er davon erfuhr.
Als dann nicht mehr zu leugnen war, dass man es keineswegs mit einer Provokation, sondern mit der größten Invasion der Militärgeschichte zu tun hatte, waren die Frontstellungen der Roten Armee bereits überrannt worden. Nach einer Woche waren die Deutschen mehr als dreihundert Kilometer weit auf sowjetisches Gebiet vorgedrungen.
Das war eine Katastrophe. Doch was Wolodja wirklich erschütterte, war das Wissen, dass sie vermeidbar gewesen wäre.
Es gab keinen Zweifel, wer die Schuld daran trug. Die Sowjetunion war eine Autokratie. Nur ein Mann traf hier die Entscheidungen: Josef Stalin. Und Stalin war stur und dumm gewesen undhatte sich auf katastrophale Weise geirrt. Jetzt schwebte das Land in tödlicher Gefahr.
Bis jetzt hatte Wolodja immer geglaubt, der Sowjetkommunismus sei die einzig wahre Ideologie, trotz der Exzesse des NKWD . Jetzt sah er, dass das Versagen seinen Ursprung ganz oben an der Spitze hatte. Berija und der NKWD existierten nur, weil Stalin es billigte. Es war Stalin, der den Marsch zum wahren Kommunismus verhinderte.
Später am Nachmittag, als Wolodja aus dem Fenster auf das sonnenbeschienene Flugfeld blickte und über die Informationen nachdachte, die er soeben bekommen hatte,
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