Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
tauchte Kamen bei ihm auf. Vor vier Jahren waren sie beide als Leutnants frisch von der Militärschule gekommen und hatten sich mit noch zwei anderen ein Büro geteilt. Damals war Kamen der Clown gewesen. Er hatte sich über alles und jeden lustig gemacht und sogar die sowjetische Orthodoxie verspottet. Jetzt war er dicker und deutlich ernster geworden. Er hatte sich einen kleinen schwarzen Schnurrbart wachsen lassen wie Außenminister Molotow, vielleicht um sich ein reiferes Aussehen zu verleihen.
Kamen schloss die Tür hinter sich, nahm Platz und holte ein Spielzeug aus der Tasche, einen Blechsoldaten, aus dessen Rücken ein Schlüssel ragte. Er zog ihn auf und stellte ihn auf Wolodjas Tisch. Der Soldat schwang die Arme, als würde er marschieren, wobei der Mechanismus ein lautes, rasselndes Geräusch von sich gab.
Leise sagte Kamen: »Stalin ist seit zwei Tagen nicht mehr gesehen worden.«
Wolodja erkannte, dass der lärmende Blechkamerad dazu diente, mögliche Abhörmikrofone in seinem Büro zu übertönen.
»Was meinst du damit, er ist nicht mehr gesehen worden?«
»Er ist nicht in den Kreml gekommen, und er geht auch nicht ans Telefon.«
Wolodja konnte es nicht glauben. Der Führer eines Landes konnte doch nicht einfach so verschwinden. »Was macht er denn?«
»Das weiß niemand.« Der Blechsoldat kam zur Ruhe. Kamen zog ihn noch einmal auf. »Samstagabend, als er erfahren hat, dass die gesamte Armeegruppe West von den Deutschen eingekesselt ist, hat er gesagt: ›Alles ist verloren. Ich gebe auf. Leninhat unseren Staat gegründet, und wir haben ihn in den Untergang geführt.‹ Dann ist er nach Kunzewo gefahren.« Stalin besaß eine Datscha in der kleinen Stadt am Rand von Moskau. »Gestern ist er nicht zur üblichen Zeit in den Kreml gekommen. Als sie in Kunzewo angerufen haben, ging niemand an den Apparat. Heute das Gleiche.«
Wolodja beugte sich vor. »Hat er vielleicht …« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Einen Nervenzusammenbruch?«
Kamen zuckte hilflos mit den Schultern. »Überraschend wäre das nicht. Schließlich hat er sich nicht von seiner Meinung abbringen lassen, die Deutschen würden uns auf keinen Fall angreifen. Und was ist jetzt?«
Wolodja nickte. Diese Erklärung ergab einen Sinn. Stalin hatte sich selbst Vater, Lehrer, Großer Führer, Großer Steuermann, Bezwinger der Natur, Genie der Menschheit und Größter Geist aller Zeiten nennen lassen. Doch nun war selbst für ihn bewiesen, dass er sich geirrt und alle anderen recht gehabt hatten. Unter solchen Umständen begingen andere Menschen Selbstmord.
Die Krise war sogar noch schlimmer, als Wolodja gedacht hatte. Die Sowjetunion wurde nicht nur angegriffen und war auf der Verliererstraße, sie war obendrein führerlos. Es war die gefährlichste Situation seit der Revolution.
Aber war es vielleicht auch eine Gelegenheit? Könnte das der richtige Augenblick sein, um Stalin loszuwerden?
Das letzte Mal war Stalin im Jahr 1924 verwundbar gewesen, als Lenin in seinem Testament erklärt hatte, Stalin sei für die Macht ungeeignet. Doch nachdem Stalin diese Krise bewältigt hatte, schien er unangreifbar zu sein, auch wenn seine Entscheidungen bisweilen an Wahnsinn grenzten, wie Wolodja nun erkannte. Die Säuberungen, die fatalen Fehler in Spanien, die Ernennung des Sadisten Berija zum Chef des NKWD , der Pakt mit Hitler … All das ging auf Stalin zurück. War diese Notlage nun endlich die Gelegenheit, seine Herrschaft zu beenden?
Wolodja verbarg seine Aufregung vor Kamen und allen anderen. Er behielt seine Gedanken für sich, als er im sanften Licht dieses Sommerabends nach Hause fuhr. Kurz wurde seine Bahn von einem langsam fahrenden Lastwagenkonvoi mit angehängten Luftabwehrgeschützen aufgehalten – vermutlich hatte sein Vater,der ja für die Luftverteidigung der Hauptstadt verantwortlich war, ihre Verlegung angeordnet.
Konnte Stalin wirklich abgesetzt werden?
Wolodja fragte sich, wie viele Leute im Kreml sich im Augenblick wohl die gleiche Frage stellten.
Er betrat das zehnstöckige Haus, in dem die Wohnung seiner Eltern lag, direkt dem Kreml gegenüber. Sie waren nicht da, aber seine Schwester mit den Zwillingen Dimka und Tanja. Der Junge, Dimka, hatte dunkle Augen und dunkles Haar. Er hielt einen roten Stift in der Hand und kritzelte auf einer alten Zeitung herum. Das Mädchen hatte die gleichen durchdringenden blauen Augen wie Grigori – und auch wie Wolodja; zumindest sagten es die Leute. Sofort streckte das
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