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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Anruf und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Katherina machte sich an die Zubereitung des Abendessens.
    Wolodja sprach mit den drei Frauen in der Küche, doch er hätte lieber mit seinem Vater geredet. Er glaubte zu wissen, warum Grigori so dringend telefonieren musste: Entweder wurde Stalins Sturz geplant oder verhindert – und das vermutlich in diesem Gebäude.
    Ein paar Minuten später beschloss Wolodja, den Zorn seines alten Herrn zu riskieren und ihn zu unterbrechen. Er entschuldigte sich und ging zum Arbeitszimmer. Doch sein Vater kam gerade heraus. »Ich muss nach Kunzewo«, verkündete er.
    Wolodja wollte unbedingt erfahren, was los war. »Warum?«
    Grigori ignorierte die Frage. »Ich habe meinen Wagen gerufen, aber mein Chauffeur ist schon nach Hause gegangen. Du kannst mich fahren.«
    Aufregung erfasste Wolodja. Er war noch nie in Stalins Datscha gewesen, und jetzt fuhr er ausgerechnet mitten in der größten Krise der sowjetischen Geschichte dorthin.
    »Komm«, sagte Grigori ungeduldig.
    Sie verabschiedeten sich von den Frauen und gingen hinaus.
    Grigoris Wagen war ein ZIS 101-A, eine sowjetische Kopie des amerikanischen Packard mit 3-Gang-Automatik. Das Autofuhr über 150 Kilometer in der Stunde. Wolodja setzte sich hinters Steuer und fuhr los.
    Er fuhr durch den Arbat, ein Handwerker- und Intellektuellenviertel, und bog dann nach Westen auf die Moschaisk-Autobahn ab. »Hat Genosse Stalin dich zu sich gerufen?«, fragte er seinen Vater.
    »Nein. Stalin ist seit zwei Tagen nicht zu erreichen.«
    »Das habe ich auch schon gehört.«
    »Wirklich? Das sollte eigentlich geheim sein.«
    »So etwas kann man nicht geheim halten. Was geschieht nun?«
    »Eine Gruppe von uns wird zu ihm nach Kunzewo fahren.«
    »Aus welchem Grund?«, stellte Wolodja die entscheidende Frage.
    »Vor allem, um herauszufinden, ob er überhaupt noch lebt.«
    Könnte er wirklich schon tot sein, ohne dass jemand davon weiß, fragte Wolodja sich. Das kam ihm eher unwahrscheinlich vor. »Und wenn er noch lebt?«
    »Ich weiß es nicht. Aber was immer auch geschieht, ich bin lieber dabei, als später davon zu erfahren.«
    Überwachungsmikrofone funktionierten nicht in fahrenden Autos; das wusste Wolodja. Deshalb war er sicher, nicht belauscht zu werden. Dennoch hatte er Angst, das Undenkbare auszusprechen. »Könnte Stalin gestürzt werden?«
    Verärgert antwortete sein Vater: »Ich habe dir doch gesagt, ich weiß es nicht.«
    Wolodja war wie elektrisiert. Solch eine Frage verlangte nach einem eindeutigen Nein. Alles andere war ein Ja. Sein Vater hatte soeben die Möglichkeit eingeräumt, dass Stalin am Ende sein könnte.
    Wolodjas Hoffnung riss ihn mit. »Stell dir nur vor, wie das wäre! Keine Säuberungen mehr! Die Arbeitslager würden geschlossen. Junge Mädchen werden nicht länger auf der Straße entführt, um von der Geheimpolizei vergewaltigt zu werden.« Er rechnete damit, dass sein Vater ihm ins Wort fiel, aber Grigori hörte nur zu, die Augen halb geschlossen. Wolodja fuhr fort: »Der dumme Begriff ›trotzkistisch-faschistischer Spion‹ wird aus unserer Sprache verschwinden. Armeeeinheiten, die sich einer Übermacht gegenübersehen, könnten sich zurückziehen, anstatt sinnlos geopfert zu werden. Entscheidungen werden logisch getroffen – von intelligentenMännern, die am Wohl aller arbeiten. Das ist der Kommunismus, von dem du vor dreißig Jahren geträumt hast!«
    »Du junger Narr«, sagte sein Vater verächtlich. »In der jetzigen Situation können wir es am allerwenigsten gebrauchen, unseren Führer zu verlieren. Wir sind im Krieg, und wir verlieren. Unser einziges Ziel muss darin bestehen, die Revolution zu verteidigen – egal, was es kostet. Wir brauchen Stalin jetzt mehr denn je.«
    Das war für Wolodja wie ein Schlag ins Gesicht. Es war viele Jahre her, seit sein Vater ihn zum letzten Mal einen Narren geschimpft hatte.
    Hatte der alte Mann recht? Brauchte die Sowjetunion Stalin wirklich? Stalin hatte so viele verheerende Fehler begangen, dass Wolodja sich nicht vorstellen konnte, ein anderer könnte es noch schlechter machen.
    Sie erreichten ihr Ziel. Stalins Heim wurde zwar Datscha genannt, aber es war keine Hütte, sondern ein langes, niedriges Gebäude mit fünf großen Fenstern rechts und links eines prachtvollen Eingangs. Es stand mitten in einem Fichtenwald und war mattgrün gestrichen, als hätte man es tarnen wollen. Hunderte von Soldaten bewachten die Tore und den doppelten Stacheldrahtzaun. Grigori deutete

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