Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
widersetzen: Er wollte sich nicht mehr mit den Juden und Ausländern an der Schule abgeben, während die deutschen Jungen in Uniformen auf den Fußballplatz marschierten.
Plötzlich gellte ein Schrei durchs Haus.
Erik riss die Augen auf. »Was war das?«
Carla runzelte die Stirn. »Ich glaube, das war Ada.«
Ein weiterer Schrei erklang. Diesmal hörten die Geschwister deutlich, dass Ada um Hilfe rief.
Erik sprang auf, während Carla bereits losrannte. Adas Zimmer lag im Keller. Die Geschwister sprangen die Stufen hinunter und eilten in die kleine Kammer.
An der Wand stand ein schmales Bett, auf dem Ada lag, das Gesicht schmerzverzerrt. Ihr Rock war nass, und auf dem Boden schimmerte eine Pfütze. Erik konnte kaum glauben, was er da sah. Hatte Ada sich vollgepinkelt? Es war erschreckend. Außer Ada waren keine Erwachsenen im Haus. Erik wusste nicht, was er tun sollte. Seine Hände zitterten.
Auch Carla hatte Angst, geriet aber nicht in Panik wie ihr Bruder. »Was ist los, Ada?«, fragte sie. Ihre Stimme klang seltsam ruhig.
»Meine Fruchtblase ist geplatzt«, stöhnte Ada.
Erik hatte keinen blassen Schimmer, was das bedeutete.
Carla auch nicht. »Und … äh, was heißt das?«, fragte sie.
»Dass das Baby kommt.«
»Du kriegst ein Kind?«, fragte Carla fassungslos.
»Aber du bist doch nicht verheiratet!«, rief Erik verwirrt. »Wie kannst du da …«
»Halt die Klappe, Erik!«, fiel Carla ihm ins Wort. »Hast du denn von nichts eine Ahnung?«
Natürlich wusste Erik, dass Frauen Babys bekommen konnten, auch ohne verheiratet zu sein – aber doch sicher nicht Ada.
»Deshalb bist du letzte Woche zum Arzt gegangen, nicht wahr?«, sagte Carla.
Ada nickte.
Erik hatte noch immer Schwierigkeiten, die Neuigkeit zu verdauen. »Ob unsere Eltern davon wissen?«, fragte er seine Schwester.
»Natürlich. Sie haben uns nur nichts gesagt. Lauf und hol ein Handtuch.«
»Woher denn?«
»Aus dem Schrank auf dem Treppenabsatz.«
»Ein sauberes?«
»Was denn sonst, du Blödhammel!«
Erik flitzte die Treppe hinauf, schnappte sich ein kleines weißes Handtuch aus dem Schrank und rannte wieder zurück.
»Das ist zu klein!«, schimpfte Carla, nahm es aber trotzdem und trocknete damit Adas Beine ab.
»Das Baby kommt bald«, sagte Ada. »Ich kann es spüren. Aber ich weiß nicht, was ich tun soll.« Sie begann zu weinen.
Der verängstigte Erik sah Carla Hilfe suchend an. Sie hatte jetzt das Kommando. Dabei spielte es keine Rolle, dass Erik der Ältere war. Ergeben wartete er auf die Befehle seiner Schwester. Carla blieb ruhig, doch Erik sah, dass auch sie Angst hatte und sich mit Mühe zusammenriss. Hoffentlich macht sie nicht schlapp, flehte er stumm, und ich muss mich um das hier kümmern.
»Hol Dr. Rothmann, Erik«, sagte Carla. »Du weißt doch, wo seine Praxis ist?«
Erik war erleichtert, endlich eine Aufgabe bekommen zu haben, die er meistern konnte. Dann aber fiel ihm etwas ein: »Und wenn er nicht da ist?«
»Dann frag Frau Rothmann, was du tun sollst, du Dämlack!«, schimpfte Carla. »Und jetzt lauf!«
Erik war froh, aus dem Zimmer verschwinden zu können. Was da geschah, war geheimnisvoll und furchterregend. Er nahm drei Stufen auf einmal und flitzte zur Haustür hinaus. Wenn er auch sonst nicht viel konnte, im Laufen war er ein Ass.
Die Arztpraxis war knapp einen Kilometer entfernt. Erik fiel in einen langsamen Trott, um die Strecke durchzuhalten. Währenddes Laufens dachte er an Ada. Wer war der Vater des Babys? Er erinnerte sich daran, dass Ada letzten Sommer ein paarmal mit Paul Huber ins Kino gegangen war. Hatten sie Geschlechtsverkehr gehabt? So musste es sein! Erik und seine Freunde hatten oft über Sex gesprochen, wussten aber nicht wirklich viel darüber. Wo hatten Ada und Paul es getan? Doch nicht im Kino, oder? Mussten Mann und Frau sich nicht aufeinanderlegen? Erik war völlig durcheinander.
Dr. Rothmanns Praxis lag in einer der ärmeren Straßen des Viertels. Er war ein guter Arzt, hatte Erik seine Mutter sagen hören, und er behandelte viele Arbeiter, die sich keine hohen Arztkosten leisten konnten. Die Praxis befand sich im Erdgeschoss des Hauses; die Familie wohnte darüber.
Vor der Tür parkte ein grüner Opel 4, ein hässlicher kleiner Zweisitzer, der im Volksmund seiner grünen Lackierung wegen »Laubfrosch« genannt wurde.
Die Eingangstür war nicht verschlossen. Erik ging hinein, holte ein paarmal tief Luft und betrat dann das Wartezimmer. Dort saß ein alter Mann hustend in
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