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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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einer Ecke; ein Stück weiter hatte eine junge Frau mit einem Baby Platz genommen.
    »Hallo?«, rief Erik. »Dr. Rothmann?«
    Die Frau des Arztes kam aus dem Behandlungszimmer. Hannelore Rothmann war eine große Blondine mit markantem Gesicht. Finster schaute sie Erik an. »Was fällt dir ein, in dieser Uniform in unser Haus zu kommen?«
    Erik erstarrte. Frau Rothmann war keine Jüdin, ihr Mann aber schon; das hatte er vor Aufregung ganz vergessen. »Unsere Zofe bekommt ein Kind!«, stieß er hervor.
    »Und jetzt willst du, dass ein jüdischer Arzt dir hilft?«
    Für einen Moment war Erik aus dem Konzept gebracht. Der Gedanke, die Gewalttaten der Nazis könnten zu einer Gegenreaktion der Juden führen, war ihm bisher nie gekommen. Nun erkannte er mit einem Mal, dass Frau Rothmann recht hatte: Die Braunhemden zogen durch die Straßen und grölten: »Juda verrecke!« Warum sollte ein jüdischer Arzt solchen Leuten helfen?
    Erik wusste nicht mehr, was er tun sollte. Natürlich gab es auch andere Ärzte, nur wo? Und würden sie zu einer wildfremden Frau kommen?
    »Äh … meine Schwester hat mich geschickt«, begann er.
    »Carla? Ja, die hat mehr Verstand als du.«
    »Ada hat gesagt, dass ihre Fruchtblase geplatzt ist.« Erik war nicht sicher, was das hieß, aber es klang irgendwie wichtig.
    Mit verkniffener Miene ging Frau Rothmann ins Behandlungszimmer zurück.
    Der alte Mann in der Ecke lachte krächzend. »Wir sind dreckige Juden, bis ihr unsere Hilfe braucht«, sagte er. »Und dann heißt es: ›Bitte, Dr. Rothmann, kommen Sie doch!‹, oder: ›Was können Sie mir raten, Herr Anwalt Koch?‹, oder: ›Leihen Sie mir hundert Mark, Herr Goldmann?‹, oder …« Ein Hustenanfall machte seiner Tirade ein Ende.
    Ein Mädchen von ungefähr sechzehn Jahren kam aus dem Flur ins Wartezimmer. War das Eva, die Tochter der Rothmanns? Erik hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Sie hatte jetzt Brüste, war aber immer noch unscheinbar und pummelig.
    »Was sagt dein Vater zu deiner neuen Uniform?«, fragte sie.
    »Er weiß nichts davon«, antwortete Erik.
    »Oh, Mann«, sagte Eva. »Da sitzt du aber ganz schön in der Tinte.«
    Erik schaute zur Tür des Behandlungszimmers. »Glaubst du, dein Vater kommt?«, fragte er besorgt. »Deine Mutter ist ganz schön wütend auf mich.«
    »Natürlich kommt er«, erwiderte Eva. »Wenn jemand krank ist, hilft er ihm.« Ihre Stimme bekam einen verächtlichen Beiklang. »Rasse oder Politik sind ihm egal. Wir sind keine Nazis.« Sie ging hinaus.
    Erik war verwirrt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass seine Uniform ihm so viel Ärger einbringen würde. In der Schule fanden sie alle ganz toll.
    Augenblicke später erschien Dr. Rothmann und redete kurz mit den beiden Patienten im Wartezimmer. »Ich bin so schnell wie möglich zurück«, sagte er. »Tut mir leid, aber ein Baby wartet nun mal nicht darauf, geboren zu werden.« Er schaute zu Erik. »Komm, junger Mann. Fahr lieber mit mir – trotz dieser Uniform.«
    Erik folgte ihm hinaus und stieg auf den Beifahrersitz des alten Opels. Er war ein großer Autofanatiker und sehnte sich danach, endlich alt genug für einen eigenen Wagen zu sein. Normalerweisegenoss er es, Auto zu fahren und die vielen Anzeigen zu beobachten, aber jetzt fühlte er sich wie auf einem Präsentierteller in seiner braunen Uniform und neben einem Juden. Was, wenn Herr Lippmann ihn sah? Die Fahrt war die reinste Qual für ihn.
    Zum Glück war sie kurz. Nach wenigen Minuten hielten sie vor dem Haus der von Ulrichs.
    »Wie heißt die junge Dame?«, fragte Dr. Rothmann.
    »Ada Hempel.«
    »Ah, ja. Sie war letzte Woche bei mir. Das Baby ist früh dran. Also gut, bring mich zu ihr.«
    Erik ging voran ins Haus, als er plötzlich ein Baby schreien hörte. War es schon da? Er rannte in den Keller hinunter, Dr. Rothmann auf den Fersen.
    Ada lag auf dem Rücken. Das Bett war voller Blut und Flüssigkeiten. Carla stand daneben und hielt ein winziges Baby in den Armen. Erik sah mit Schaudern, dass es voller Schleim war. Irgendetwas, das wie ein Strick aussah, hing von dem Baby bis unter Adas Rock. Carla stand da, die Augen vor Entsetzen aufgerissen. »Was … soll ich denn jetzt … tun?«, stammelte sie.
    »Du tust genau das Richtige«, versicherte Dr. Rothmann. »Halt das Baby noch ein paar Minuten.« Er setzte sich neben Ada, hörte sie ab und fühlte ihren Puls. Dann fragte er: »Wie fühlen Sie sich, mein Kind?«
    »Ich bin so müde …«, sagte Ada.
    Dr. Rothmann nickte zufrieden,

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