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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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getan?«, fragte Peter.
    »Ich habe Menschen ermordet. Wird Gott mir auch das verzeihen?«
    Der Priester starrte die junge Krankenschwester an. Was sie gesagt hatte, konnte er nicht so einfach als Propaganda abtun. Alle schwiegen. Carla hielt den Atem an.
    »Die Behinderten werden in grauen Bussen zu uns in die Klinik gebracht«, fuhr Ilse fort. »Sie bekommen keine Therapie, wie ihren Angehörigen weisgemacht wurde. Wir geben ihnen Injektionen, und sie sterben. Dann verbrennen wir ihre Leichen.« Sie schaute Peter in die Augen. »Ob Gott mir je vergeben wird, was ich getan habe?«
    Peter öffnete den Mund, um zu antworten, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken, und er räusperte sich. Schließlich fragte er leise: »Wie viele?«
    »Meist sind es vier. Busse, meine ich. Ein Bus bringt durchschnittlich fünfundzwanzig Patienten.«
    »Einhundert Menschen insgesamt?«
    »Ja. Jede Woche.«
    Von Peters überheblichem Stolz war keine Spur mehr zu sehen. Sein Gesicht war grau, sein Mund stand offen. »Einhundert behinderte Menschen pro Woche …«, flüsterte er.
    »Ja, Vater.«
    »Von was für Behinderungen reden wir?«
    »Von den verschiedensten Behinderungen körperlicher und geistiger Art. Senile alte Leute, Babys mit Missbildungen, Männer und Frauen, gelähmt, geistig zurückgeblieben oder einfach nur hilflos.«
    Peter konnte es nicht glauben. »Und das Krankenpersonal ermordet sie?«
    Ilse schluchzte: »Es tut mir leid, es tut mir so schrecklich leid …«
    Carla beobachtete Peter, mit dem eine bemerkenswerte Veränderung vor sich gegangen war. Nachdem er es in der Beichte jahrelang nur mit den kleinen Sünden der Menschen dieser braven, biederen Gegend zu tun gehabt hatte, wurde er nun mit dem wahren Bösen konfrontiert. Und er war sichtlich schockiert.
    Aber was würde er tun?
    Schließlich stand Peter auf, nahm Ilse bei den Händen und zog sie in die Höhe. »Komm zurück in den Schoß der Kirche«, sagte er. »Beichte deinem Pfarrer. Du bist reuig, deshalb wird Gott dir vergeben.«
    »Danke«, flüsterte Ilse.
    Peter ließ ihre Hände los und drehte sich zu Heinrich um. »Für uns andere wird es vermutlich nicht so einfach«, sagte er.
    Dann kehrte er ihnen den Rücken zu und kniete sich wieder hin, um zu beten.
    Carla schaute Heinrich an, der nur mit den Schultern zuckte. Sie standen auf und verließen den kleinen Raum. Carla hatte den Arm um die weinende Ilse gelegt.
    »Lasst uns zur Messe bleiben«, schlug Carla vor. »Vielleicht redet er anschließend ja noch einmal mit uns.«
    Carla und die anderen gingen ins Kirchenschiff. Ilse beruhigte sich allmählich wieder, und Frieda hielt Heinrichs Arm. Sie suchten sich Plätze zwischen den Gemeindemitgliedern, wohlhabenden Männern, gut genährten Frauen und zappeligen Kindern in ihrem besten Sonntagsstaat. Diese Menschen würden nie einen Behinderten töten, dachte Carla, ihre Regierung aber schon, und zwar in ihrem Namen. Wie hat es nur so weit kommen können?
    Carla wusste nicht, was sie von Peter erwarten sollte. Offensichtlich hatte er ihnen zum Schluss geglaubt, nachdem er die Geschichte anfangs als politisch motiviert abtun wollte. Doch Ilses Ernsthaftigkeit hatte ihn überzeugt. Er war unverkennbar schockiert gewesen. Aber er hatte ihnen nichts versprochen, außer dass Gott Ilse vergeben würde.
    Carla schaute sich in der Kirche um. Das Innere war prächtiger und farbenfroher, als sie es aus protestantischen Gotteshäusern gewohnt war. Es gab mehr Statuen und Gemälde, mehr Marmor, mehr Blattgold, mehr Banner und mehr Kerzen. Einst hatten Protestanten und Katholiken sich wegen solcher Kleinigkeiten erbittert bekriegt. Seltsam, dass in einer Welt, in der unschuldige Kinder ermordet werden konnten, wegen läppischer Kerzen gestritten wurde.
    Der Gottesdienst begann. Die Priester betraten das Kirchenschiff in ihren Gewändern. Peter war der Größte von ihnen. Carla sah die tiefe Frömmigkeit in seinem Gesicht.
    Ohne innere Beteiligung sang sie die Kirchenlieder mit und sprach die Gebete. Schließlich hatte sie auch für ihren Vater gebetet, und zwei Stunden später hatte sie ihn grausam zusammengeschlagen und sterbend im Flur ihres Hauses gefunden. Sie vermisste ihn jeden Tag, manchmal sogar jede Stunde. Beten hatte ihn nicht gerettet, und es würde auch denen nicht helfen, die vonder Regierung als lebensunwert betrachtet wurden. Es brauchte Taten, keine Worte.
    Während sie noch an ihren Vater dachte, schweiften Carlas Gedanken zu Erik, ihrem Bruder,

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