Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
auf eine Luftabwehrbatterie, die teilweise unter einem Tarnnetz verborgen war. »Die habe ich da aufgestellt«, sagte er.
Die Wache am Tor erkannte Grigori; trotzdem verlangte der Mann die Papiere. Obwohl Grigori General und Wolodja Hauptmann der GRU war, wurden sie nach Waffen abgetastet.
Wolodja fuhr zum Haupteingang. Ihr Wagen war das einzige Auto. »Wir werden auf die anderen warten«, sagte Grigori.
Augenblicke später fuhren weitere ZIS -Limousinen vor. Wolodja erinnerte sich, dass ZIS für »Zavod Imeni Stalin« stand, die Fabrik mit Stalins Namen. Waren die Henker in Autos gekommen, die nach ihrem Opfer benannt waren?
Alle stiegen aus: acht Männer mittleren Alters in Anzug und Hut, die das Schicksal des Landes in Händen hielten. Wolodja erkannte Außenminister Molotow und den Geheimdienstchef Berija.
»Gehen wir«, sagte Grigori.
Wolodja war erstaunt. »Ich soll mit rein?«
Grigori griff unter den Sitz und gab Wolodja eine Pistole, eine Tokarew TT -33. »Steck die in die Tasche«, sagte er. »Wenn dieserHundesohn Berija versucht, mich zu verhaften, erschießt du den Kerl.«
Wolodja nahm die Waffe vorsichtig entgegen; die Tokarew hatte keine Sicherung. Er steckte sie in die Jackentasche – sie war gut zwanzig Zentimeter lang – und stieg aus. Das Magazin enthielt acht Schuss, erinnerte er sich.
Sie gingen ins Gebäude. Wolodja befürchtete, noch einmal abgetastet zu werden, doch es gab keine zweite Überprüfung.
Das Innere des Hauses war in dunklen Farben gestrichen und schlecht beleuchtet. Ein Offizier führte die Gruppe in ein kleines Speisezimmer. Dort saß Stalin in einem Ohrensessel.
Der mächtigste Mann der östlichen Welt wirkte verhärmt und depressiv. Er musterte die Neuankömmlinge; dann fragte er: »Warum seid ihr hier?«
Wolodja schnappte nach Luft. Offensichtlich rechnete Stalin damit, verhaftet oder an Ort und Stelle erschossen zu werden.
Es folgte eine lange Pause. Wolodja erkannte, dass die Männer nicht wussten, was sie tun sollten. Wie hätten sie auch einen Plan entwickeln sollen, wo sie nicht einmal gewusst hatten, ob Stalin noch lebte?
Was würden sie jetzt tun? Ihn erschießen? Eine andere Gelegenheit würden sie kaum bekommen.
Schließlich trat Molotow vor. »Wir bitten dich, wieder zur Arbeit zu kommen«, sagte er.
Stalin schüttelte den Kopf. »Kann ich die Hoffnung der Menschen erfüllen? Kann ich das Land zum Sieg führen?«
Wolodja war sprachlos. Wollte er sich wirklich weigern?
Stalin fügte hinzu: »Dafür gibt es weit bessere Kandidaten.«
Es war nicht zu fassen. Er gab ihnen eine zweite Chance, ihn zu erschießen.
Ein weiteres Mitglied der Gruppe, Marschall Woroschilow, meldete sich zu Wort. »Es gibt keinen Würdigeren.«
Was sollte das denn? Jetzt war wohl kaum die Zeit für Schmeicheleien.
Dann meldete sich Wolodjas Vater zu Wort. »Das stimmt«, sagte er.
Wolodja konnte es kaum glauben. Würden sie Stalin wirklich nicht erledigen? Waren sie tatsächlich so dumm?
Molotow war der Erste, der etwas Vernünftiges sagte. »Wir schlagen die Bildung eines Verteidigungskomitees vor, einer Art Ultra-Politbüro mit sehr wenigen Mitgliedern und umfassenden Vollmachten.«
»Und wer wird diesem Komitee vorsitzen?«, fragte Stalin.
»Du, Genosse Stalin.«
Wolodja hätte am liebsten laut »Nein!« gerufen.
Wieder folgte längeres Schweigen.
Schließlich sagte Stalin: »Also gut. Wer soll sonst noch in diesem Komitee sitzen?«
Berija trat vor und machte Vorschläge.
Es war vorbei, erkannte Wolodja. Vor Enttäuschung war er wie benommen. Sie hatten die Chance vertan. Sie hätten einen Tyrannen stürzen können, aber ihnen hatte der Mut gefehlt. Wie die Kinder eines gewalttätigen Vaters hatten sie Angst gehabt, ohne ihn nicht leben zu können.
Es war sogar noch viel schlimmer, erkannte Wolodja mit wachsender Niedergeschlagenheit. Vielleicht hatte Stalin ja tatsächlich einen Nervenzusammenbruch erlitten; er machte ganz den Eindruck. Zugleich hatte er einen brillanten politischen Schachzug gemacht. Alle, die ihn hätten ersetzen können, befanden sich hier in diesem Raum. In dem Augenblick, als seine katastrophalen Fehler für alle sichtbar geworden waren, hatte er seine Rivalen gezwungen, vorzutreten und ihn anzuflehen, zurückzukommen. Er hatte einen Strich unter seine furchtbaren Entscheidungen gemacht und sich selbst einen Neuanfang verschafft.
Stalin war wieder da. Und er war stärker denn je.
Wer würde den Mut haben, öffentlich gegen die
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