Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
der irgendwo in Russland war. Er hatte einen Brief nach Hause geschickt, in dem er über den raschen Vormarsch der Wehrmacht gejubelt hatte. Außerdem hatte er nicht glauben wollen, dass Walter von der Gestapo ermordet worden war. Ihr Vater, hatte er geschrieben, sei mit Sicherheit unversehrt von der Gestapo entlassen und dann von jüdischen oder kommunistischen Totschlägern auf der Straße überfallen worden. Erik lebte in einer Fantasiewelt, jenseits aller Vernunft.
Galt das auch für Pater Peter?
Peter stieg auf die Kanzel. Carla fragte sich, was er predigen würde. Würde er auf die Verbrechen eingehen, von denen er vorhin erst gehört hatte? Oder würde er über irgendetwas Unbedeutendes reden? Über die Tugend der Bescheidenheit, die Sünde des Neids? Oder würde er die Augen schließen und Gott für die Siege der Wehrmacht in Russland danken?
Peter richtete sich auf der Kanzel auf und ließ den Blick durch die Kirche schweifen. Er wirkte stolz und trotzig, als er begann: »Das fünfte Gebot lautet: Du sollst nicht töten.« Seine Stimme hallte durch das Kirchenschiff. »Doch in Akelberg, einem Ort in Bayern, verstößt unsere Regierung hundert Mal in der Woche gegen dieses Gebot, indem sie Menschen jeden Alters umbringen lässt. Menschen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen.«
Carla schnappte nach Luft. Der Pater hatte tatsächlich den Mut, gegen das Euthanasieprogramm zu predigen! Das konnte der Stein sein, der die Lawine ins Rollen brachte.
»Es macht keinen Unterschied, ob die Opfer körperlich behindert sind, geistig verwirrt oder ob sie sich nicht mehr selbst ernähren können.« Der Pater ließ seinem Zorn nun freien Lauf. »Hilflose Säuglinge und altersschwache Greise, sie alle sind Kinder Gottes, und ihr Leben ist genauso heilig wie eures oder meins. Sie umzubringen ist eine Schande für dieses Land und eine Todsünde vor Gott!« Er hob den Arm und ballte die Faust. Seine Stimme zitterte vor Bewegtheit. »Ich sage euch, wenn wir nichts dagegen tun, versündigen wir uns genauso wie die Ärzte undKrankenschwestern, die diesen armen Menschen die tödlichen Spritzen geben. Wenn wir schweigen, machen auch wir uns zu Mördern!«
Kommissar Macke war außer sich vor Wut. Man hatte ihn in den Augen von Kriminaldirektor Kringelein und seinen anderen Vorgesetzten zum Narren gemacht. Er hatte ihnen versichert, das Leck gestopft zu haben. Das Geheimnis von Akelberg – und all den anderen Krankenhäusern im Land, in denen die gleichen Dinge geschahen – sei sicher, hatte er gesagt. Er hatte die drei Störenfriede aufgespürt, Werner Franck, Pastor Ochs und Walter von Ulrich, und sie auf unterschiedliche Art zum Schweigen gebracht.
Und doch war das Geheimnis herausgekommen.
Der Verantwortliche war ein junger, arroganter Priester.
Pater Peter saß nun vor Macke, nackt und mit Händen und Füßen an einen speziellen Stuhl gefesselt. Er blutete aus Ohren, Nase und Mund, und seine Brust war voller Erbrochenem. Elektroden waren an seinen Lippen, den Brustwarzen und dem Penis angebracht. Ein Band um seine Stirn verhinderte, dass er sich das Genick brach, wenn sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde.
Ein Arzt saß neben dem Priester, überprüfte das Herz mit einem Stethoskop und schaute zweifelnd drein. »Er wird nicht mehr viel aushalten«, sagte er mit nüchterner Stimme.
Peters defätistische Predigt war andernorts aufgegriffen worden. Der Bischof von Münster, Clemens Graf von Galen, ein wesentlich einflussreicherer Kirchenmann, hatte Hitler unmissverständlich aufgefordert, die Menschen zu retten und dabei klugerweise durchblicken lassen, der Führer könne unmöglich von dem Programm gewusst haben. So konnte Hitler das Gesicht wahren.
Von Galens Predigt war mitgeschrieben, vervielfältigt und in ganz Deutschland verteilt worden.
Die Gestapo hatte jeden verhaftet, den sie mit einer Kopie erwischt hatte, doch ohne Erfolg. Es war das einzige Mal in der Geschichte des Dritten Reiches, dass das Volk sich gegen seine Führung empört hatte.
Die Reaktion des Staates erfolgte hart und schnell, aber es nützte nichts: Die Kopien der Predigt verbreiteten sich immer weiter; mehr und mehr Kirchenmänner beteten für die Behinderten, und in Akelberg hatte es sogar eine Demonstration gegeben. Die Sache war völlig außer Kontrolle geraten.
Und Macke war schuld daran.
Nun beugte er sich über Peter. Die Augen des Priesters waren geschlossen und sein Atem flach, aber er war bei Bewusstsein.
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