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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Vorahnung erfasste ihn.
    Die Gefangenen wurden von einheimischen Polizisten bewacht, die mit Schlagstöcken bewaffnet waren. Offenbar Kollaborateure, die der Einsatzgruppe bei ihren Aufgaben halfen. Die Polizisten musterten Erik, bemerkten die deutsche Uniform unter dem russischen Pelzmantel und schwiegen.
    Als Erik an ihnen vorbeiging, sprach ihn ein gut gekleideter russischer Gefangener auf Deutsch an. »Mein Herr, ich bin der Direktor der Reifenfabrik in dieser Stadt. Ich habe nie an den Kommunismus geglaubt, nur so getan, wie alle Fabrikleiter. Ich kann Ihnen helfen. Ich weiß, wo alles ist. Nur, bitte, bringen Sie mich von hier weg!«
    Erik ignorierte den Mann und ging in die Richtung, aus der die Schüsse kamen.
    Er erreichte den Steinbruch, eine große, unregelmäßig geformte Grube. Fichten überragten den Rand wie Wachsoldaten in dunkelgrünen Uniformen. An einer Stelle führte eine lange Rampe in die Grube hinunter. Noch während Erik beobachtete, wurden ein Dutzend Gefangene von Wachen die Rampe hinuntergetrieben, darunter drei Frauen und ein Junge von ungefähr elf Jahren. Lag das Gefangenenlager irgendwo hier im Steinbruch? Doch die Gefangenen hatten kein Gepäck mehr dabei. Schnee fiel auf ihre unbedeckten Köpfe.
    Erik wandte sich an einen Unterscharführer, der in der Nähe stand. »Wer sind die Gefangenen?«, fragte er.
    »Kommunisten«, antwortete der Mann. »Aus der Stadt. Politkommissare und so ’n Kroppzeug.«
    »Was denn? Sogar der kleine Junge da?«
    »Und Juden«, fügte der Unterscharführer hinzu.
    »Was sind sie denn jetzt? Kommunisten oder Juden?«
    »Macht das ’nen Unterschied?«
    »Es ist nicht das Gleiche.«
    »Das ist doch Scheiße. Die meisten Kommunisten sind Juden, und die meisten Juden sind Kommunisten. Weißt du denn nicht, was hier gespielt wird, Kamerad?«
    Erik dachte an den Direktor der Reifenfabrik, der ihn angesprochen hatte. Dieser Mann jedenfalls schien weder Kommunist noch Jude zu sein.
    Die Gefangenen erreichten nun den Boden des Steinbruchs. Bis zu diesem Augenblick hatten sie sich wie eine Schafherde treiben lassen, stumm und scheinbar geduldig. Nun wurden sie aufgeregt und deuteten auf irgendetwas auf dem Boden der Grube. Erik spähte durch die Schneeflocken hindurch und sah etwas, das wie Leichen zwischen den Felsen aussah. Schnee sammelte sich auf ihrer Kleidung.
    In diesem Moment bemerkte Erik zum ersten Mal die zwölf Schützen zwischen den Bäumen am Rand der Grube. Zwölf Gefangene, zwölf Schützen. Erik war sofort klar, was hier geschah. Unglauben, vermischt mit Entsetzen, schoss wie Galle in ihm hoch.
    Die Schützen hoben ihre Waffen und zielten auf die Gefangenen.
    »Nein«, sagte Erik. »Nein, das könnt ihr doch nicht tun.« Niemand hörte ihn.
    Eine weibliche Gefangene schrie. Erik sah, wie sie zu dem elfjährigen Jungen eilte und ihn an sich drückte, als könnten ihre Arme die Kugeln aufhalten. Offenbar war sie die Mutter des Jungen.
    Ein Offizier rief: »Feuer!«
    Die Gewehre krachten, und die Gefangenen taumelten und fielen. Durch den Knall löste sich ein wenig Schnee von den Fichten, rieselte auf die Schützen und sprenkelte ihre Kleidung weiß.
    Erik sah, wie der Junge und seine Mutter fielen, noch immer Arm in Arm. »Nein«, stieß er hervor. »Nein!«
    Der Unterscharführer schaute ihn an. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er irritiert. »Wer bist du überhaupt?«
    »Ein Sanitäter«, antwortete Erik, ohne den Blick von der schrecklichen Szene im Steinbruch zu nehmen.
    »Was machst du dann hier?«
    »Ich bin mit dem Krankenwagen gekommen, der die Offiziere abtransportieren soll, die bei dem Unfall verletzt wurden.« Erik sah, wie wieder zwölf Gefangene die Rampe hinuntergeführt wurden. »O Gott«, sagte er mit bebender Stimme. »Vater hatte recht. Wir sind ein Volk von Mördern.«
    »Hör auf zu jammern, Mann. Mach, dass du wieder zu deinem Krankenwagen kommst.«
    »Jawohl, Unterscharführer«, sagte Erik.

    Ende November bat Wolodja um die Versetzung zu einer Kampfeinheit. Seine nachrichtendienstliche Arbeit schien nicht mehr von Bedeutung zu sein. Die Rote Armee brauchte in Berlin keine Spione mehr, um die Absichten einer deutschen Wehrmacht zu erfahren, die schon wenige Kilometer vor Moskau stand. Und Wolodja wollte für seine Stadt kämpfen.
    Seine Vorbehalte gegen die Regierung kamen ihm inzwischen belanglos vor. Stalins Dummheit, die Brutalität der Geheimpolizei, die Tatsache, dass in der Sowjetunion nie etwas so funktionierte,

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