Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
weit sehen. Aber das würde den Russen dabei helfen, sich an die Deutschen anzuschleichen und sie zu überraschen.
Es war klirrend kalt, unter minus 35 Grad Celsius. Die Kälte war für beide Seiten schrecklich, aber die Deutschen hatten größere Probleme damit, denn ihnen fehlte die Winterausrüstung.
Zu seiner großen Überraschung stellte Wolodja fest, dass die sonst effektive Wehrmacht ihre Front nicht befestigt hatte. Es gab weder Schützengräben noch Panzersperren oder auch nur Schützenlöcher. Die deutsche Front war nicht mehr als eine Reihe kleiner, leicht befestigter Stellungen. Es war einfach, durch die Lücken in die Stadt zu schlüpfen und nach »weichen« Zielen zu suchen, nach Baracken, Kantinen und Munitionslagern.
Wolodjas Männer erschossen drei Wachen, um ein Fußballfeld einzunehmen, auf dem fünfzig Panzer abgestellt waren. Kann das wirklich so einfach sein, fragte sich Wolodja. War die Streitmacht, die halb Russland erobert hatte, ausgelaugt oder gar am Ende?
Die Leichen sowjetischer Soldaten, die bei vorangegangenen Gefechten gefallen waren, hatte man an Ort und Stelle liegen gelassen, nachdem man ihnen die Mäntel und Stiefel abgenommen hatte.
Die Straßen der Stadt waren übersät mit liegen gebliebenen Fahrzeugen: leeren Lkws mit offenen Türen, schneebedeckten Panzern mit kalten Motoren und Limousinen, deren Motorhauben offen standen, als hätte ein Mechaniker sich gerade irgendetwas angesehen, aber verzweifelt aufgegeben.
Als Wolodja die Hauptstraße überquerte, hörte er ein Motorengeräusch und sah durch den Schnee von links Scheinwerfer auf sich zukommen. Zuerst nahm er an, es handle sich um einen sowjetischen Wagen, der durch die deutschen Linien gebrochen war. Doch unvermittelt nahm das Fahrzeug ihn und seine Männer unter Beschuss. Wolodja rief seinen Leuten zu, in Deckung zu gehen. Wie sich herausstellte, gehörten die Scheinwerfer zu einem deutschen Kübelwagen. Diese Fahrzeuge verfügten über eine Luftkühlung, sodass der Motor nicht eingefroren war. Der Wagen jagte mit hoher Geschwindigkeit an den Russen vorbei, und die Soldaten schossen von den Sitzen aus.
Wolodja war so überrascht, dass er ganz vergaß, das Feuer zu erwidern. Warum fuhr ein Fahrzeug voller bewaffneter Deutscher weg von der Schlacht?
Wolodja führte seine Kompanie über die Straße. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich von Haus zu Haus würden durchkämpfen müssen; tatsächlich aber trafen sie nur auf geringen Widerstand. Die Gebäude in der besetzten Stadt waren verschlossen, die Fenster verrammelt und dunkel. Die Einheimischen, die sich noch in den Häusern aufhielten, hatten sich wahrscheinlich unter die Betten verkrochen und warteten ängstlich ab, was geschah.
Weitere Fahrzeuge kamen die Straße herunter. Wolodja gelangte zu dem Schluss, dass die feindlichen Offiziere vom Schlachtfeld flohen. Er befahl einem Trupp mit einem leichten Maschinengewehr, in einem Café in Deckung zu gehen, von wo aus sie auf die Fliehenden feuern konnten. Die Deutschen durften auf keinen Fall überleben, um morgen wieder Russen zu töten.
Unmittelbar neben der Hauptstraße entdeckte Wolodja ein gemauertes Haus, hinter dessen dünnen Vorhängen ein helles Lichtschien. Vorsichtig schlich er an einem Wachposten vorbei, der in dem Schneesturm nicht weit sehen konnte, spähte in das Gebäude und sah mehrere Offiziere. Das musste der Bataillonsgefechtsstand der Deutschen sein.
Flüsternd erteilte er seinen Unteroffizieren Befehle. Die Männer schossen durch die Fenster und warfen dann Handgranaten hinein. Ein paar Deutsche ergaben sich und kamen heraus, die Hände über dem Kopf. Eine Minute später hatte Wolodja das Gebäude eingenommen.
Dann hörte er ein neues Geräusch. Er lauschte und runzelte die Stirn. Das klang wie jubelnde Zuschauer bei einem Fußballspiel. Er trat aus dem Gebäude. Das Geräusch kam von der Front, und es wurde immer lauter.
Dann ertönte Maschinengewehrfeuer hundert Meter die Hauptstraße hinunter, und ein Lastwagen schleuderte von der Straße und gegen eine Ziegelmauer. Er ging in Flammen auf, vermutlich nach einem Treffer von dem leichten MG , das Wolodja im Café in Stellung gebracht hatte. Zwei weitere Fahrzeuge folgten, entkamen jedoch.
Wolodja lief zu dem Café. Seine Männer hatten das Zweibein des MG s ausgeklappt und es auf einen Tisch gestellt. Das MG vom Typ DA nannte man wegen des tellerförmigen Magazins auch »Plattenspieler«, und die Männer hatten sichtlich Spaß
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