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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Russen zerstörten oft alles, bevor sie sich zurückzogen, doch diese Stadt war mehr oder weniger intakt geblieben. Unter anderem gab es hier ein modernes Krankenhaus, das die Deutschen übernommen hatten. Den russischen Ärzten hatte Dr. Weiss befohlen, ihre Patienten ungeachtet ihres Zustands nach Hause zu schicken.
    Erik untersuchte gerade einen Patienten mit Erfrierungen, einen Jungen von achtzehn, neunzehn Jahren. Die Haut auf seinem Gesicht war gelb wie Wachs und eiskalt. Als Erik und Hermann die dünne Sommeruniform wegschnitten, sahen sie, dass Arme und Beine von purpurnen Blasen übersät waren. Und in dem verzweifelten Versuch, die Kälte fernzuhalten, hatte der Junge seine zerschlissenen Stiefel mit Zeitungspapier ausgestopft. Als Erik sie auszog, stieg ihm der typische Gestank von totem Fleisch in die Nase.
    Trotzdem glaubte er, den Jungen vor einer Amputation bewahren zu können.
    Die beiden Sanitäter wussten, was sie zu tun hatten. Sie behandelten mehr Männer wegen Frostbrands als wegen Kampfverletzungen.
    Erik füllte eine Badewanne; dann ließen er und Hermann den Patienten vorsichtig in das warme Wasser hinab.
    Erik betrachtete den langsam auftauenden Körper. Deutlich war das schwarze abgestorbene Gewebe an den Füßen zu sehen.
    Als das Wasser abkühlte, hoben sie den Jungen heraus, trockneten ihn vorsichtig ab, legten ihn in ein Bett und deckten ihn zu. Dann verteilten sie heiße, in Handtücher gewickelte Steine um ihn herum.
    Der Patient war bei Bewusstsein. »Werde ich meinen Fuß verlieren?«, fragte er.
    »Das entscheidet der Arzt«, antwortete Erik. »Wir sind nur Sanitäter.«
    »Aber ihr seht doch viele Verwundete«, hakte der Junge nach. »Was würdet ihr denn sagen?«
    »Ich glaube, du kommst wieder in Ordnung«, antwortete Erik. Falls nicht, wusste er, was geschehen würde: An dem weniger stark betroffenen Fuß würde Weiss die Zehen mit einer großen Zange amputieren, die an eine Astschere erinnerte. Das andere Bein jedoch würde er knapp unterhalb des Knies abnehmen.
    Weiss kam ein paar Minuten später und untersuchte Füße und Beine des Jungen. »Bereiten Sie den Patienten zur Amputation vor«, befahl er hart.
    Erik fluchte in sich hinein. Wieder ein junger Mann, der den Rest seines Lebens als Krüppel verbringen musste. Was für eine Schande.
    Doch der Verwundete sah das anders. »Gott sei Dank«, sagte er leise. »Jetzt muss ich nicht mehr kämpfen.«
    Während sie den Jungen für die Operation vorbereiteten, dachte Erik darüber nach, dass der Patient nur einer von vielen mit dieser wehrkraftzersetzenden Einstellung war – seine eigene Familie gehörte auch dazu. Erik dachte viel an seinen verstorbenen Vater, und jedes Mal mit einer Mischung aus Wut und Trauer. Sein alter Herr hätte sich der Mehrheit anschließen und den Triumph des Dritten Reiches feiern sollen, dachte Erik verbittert. Stattdessen hatte er die Entscheidungen des Führers infrage gestellt und die Moral der Wehrmacht untergraben. Warum hatte er so ein Dummkopf sein müssen? Warum hatte er sich an die überholte Staatsform der Demokratie geklammert? Die demokratische Freiheit hatte Deutschland nichts eingebracht, gar nichts, während der Faschismus das Reich gerettet hatte.
    Erik war wütend auf seinen Vater, und doch traten ihm Tränen in die Augen, als er daran dachte, wie er ums Leben gekommen war. Anfangs hatte Erik geleugnet, dass die Gestapo seinen Vater getötet hatte, doch es hatte nicht lange gedauert, bis er erkennen musste, dass es vermutlich der Wahrheit entsprach. Gestapo-Beamte waren keine Sonntagsschüler: Sie schlugen Leute zusammen, die Lügen über die Regierung verbreiteten. Vater hatte hartnäckig gefragt, warum die Regierung behinderte Kinder tötete. Es war dumm von ihm gewesen, auf seine englische Frau und seine hysterische Tochter zu hören. Erik liebte die beiden, aber das machte es umso schmerzhafter für ihn, dass sie so fehlgeleitet und stur waren.
    Während seines Fronturlaubs in Berlin hatte Erik den Vater von Hermann besucht, den Mann, der ihm einst die Philosophie der Nazis erklärt hatte, als er noch ein Kind gewesen war. Herr Braun war jetzt in der SS . Erik hatte ihm erzählt, er habe in einer Kneipe einen Mann getroffen, der behauptete, die Regierung würde Behinderte in eigens dafür eingerichteten Krankenhäusern ermorden. »Es ist wahr, dass Behinderte das Reich auf seinem Weg in die Zukunft viel Zeit und Geld kosten«, hatte Herr Braun erwidert. »Unsere Rasse muss

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