Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

charmanter Schüchternheit gewandelt. Daisy fiel es nach wie vor schwer, ihn sich als Jagdflieger vorzustellen, der deutsche Flugzeuge vom Himmel holte. Der Bombenkrieg gegen London war vor einem halben Jahr zu Ende gegangen, und am Himmel Südenglands sah man keine Luftschlachten mehr.
    »Was für Einsätze fliegst du?«, fragte sie.
    »Hauptsächlich CIRCUS -Operationen bei Tag über Nordfrankreich.«
    »Was ist eine CIRCUS -Operation?«
    »Ein Bombenangriff mit massivem Geleitschutz aus Jagdflugzeugen. Das Hauptziel besteht darin, feindliche Maschinen in einen Luftkampf zu locken, bei dem sie in der Unterzahl sind.«
    »Ich hasse Bomber«, sagte Daisy. »Ich habe den Blitz mitgemacht.«
    Er war überrascht. »Ich dachte, du würdest den Deutschen gern ihre eigene Medizin zu schmecken geben.«
    »Nein, überhaupt nicht.« Daisy hatte viel darüber nachgedacht. »Ich könnte noch immer weinen um all die unschuldigen Frauen und Kinder, die in London verbrannt sind oder verstümmeltwurden. Dass deutsche Frauen und Kinder das Gleiche erdulden müssen, wäre kein Trost.«
    Sie bestellten ihr Essen. Die kriegsbedingten Einschränkungen erlaubten nur drei Gänge, und die Mahlzeit durfte nicht mehr kosten als fünf Shilling. Auf der Speisekarte standen spezielle Spargerichte wie Falsche Ente, die aus Schweinswurst bestand, und Woolton-Pastete, die überhaupt kein Fleisch enthielt.
    »Du glaubst gar nicht, wie schön es ist, endlich wieder eine Frau zu hören, die richtiges Amerikanisch spricht«, sagte Charlie. »Ich mag die Engländerinnen, bin sogar mit einer gegangen, aber ich vermisse den Klang amerikanischer Stimmen.«
    »Geht mir genauso«, gab Daisy zu. »Hier ist jetzt mein Zuhause, und ich glaube auch nicht, dass ich jemals in die Staaten zurückkehre, aber ich weiß, was du meinst.«
    »Schade, dass ich Viscount Aberowen verpasst habe.«
    »Er ist in der Air Force, genau wie du. Er bildet Piloten aus. Hin und wieder kommt er nach Hause, aber nicht dieses Wochenende.«
    Daisy schlief wieder mit Boy, wenn er in Mayfair übernachtete. Zwar hatte sie das Gegenteil geschworen, als sie ihn damals mit den beiden schrecklichen Frauen in Aldgate ertappt hatte, doch Boy setzte sie unter Druck, indem er erklärte, dass Männer Trost und Zärtlichkeit bräuchten, wenn sie aus dem Kriegseinsatz nach Hause kämen. Er hatte versprochen, nie wieder zu einer Prostituierten zu gehen. Daisy nahm ihm sein Versprechen zwar nicht ab, hatte aber widerstrebend nachgegeben. Schließlich hatte sie geschworen, in guten wie in schlechten Zeiten für ihn da zu sein.
    Doch der Sex mit Boy gab Daisy nichts mehr. Sie konnte mit ihm ins Bett gehen, aber sie konnte sich nicht wieder in ihn verlieben. Sie musste sogar Cremes verwenden, um überhaupt mit ihm schlafen zu können. Sie hatte versucht, wieder zum Leben zu erwecken, was sie für ihn empfunden hatte, als sie ihn als aufregenden jungen Aristokraten kennenlernte, dem die Welt zu Füßen lag – einen fröhlichen Menschen, der das Leben in vollen Zügen genoss. Doch er war gar kein aufregender Kerl; das wusste sie heute. Er war nur ein selbstsüchtiger, ziemlich beschränkter Mann mit einem Adelstitel. Wenn er auf ihr lag, empfand Daisy nichts – nur die Furcht, er könne sie mit irgendeiner abscheulichen Krankheit anstecken.
    Behutsam begann Charlie: »Sicher möchtest du nicht über die Rouzrokhs sprechen …«
    »Das muss nicht sein.«
    »Aber wusstest du schon, dass Joanne tot ist?«
    »Nein!« Daisy war entsetzt. »Wie ist sie gestorben?«
    »In Pearl Harbor. Sie war mit Woody Dewar verlobt und hat ihn begleitet, als er dort seinen Bruder besuchte. Chuck ist in der Navy und in Pearl Harbor stationiert. Sie saßen in einem Auto, das von einer Zero beschossen wurde, einem japanischen Jagdflugzeug. Joanne wurde tödlich getroffen.«
    »O Gott. Die arme Joanne … und der arme Woody.«
    Ihr Essen kam, dazu eine Flasche Wein. Eine Zeit lang aßen sie schweigend. Daisy stellte fest, dass Falsche Ente nicht einmal entfernt nach Ente schmeckte.
    »In Pearl Harbour sind zweitausendvierhundert Menschen ums Leben gekommen«, sagte Charlie. »Wir haben acht Schlachtschiffe und zehn weitere Einheiten verloren. Gottverdammte hinterhältige Japse.«
    »Soll ich dir was sagen, Charlie? Die Leute hier haben sich insgeheim gefreut, weil die USA jetzt im Krieg sind. Gott allein weiß, weshalb Hitler so verrückt war, den Vereinigten Staaten den Krieg zu erklären. Die Briten glauben, sie hätten jetzt