Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
dass sie in Wirklichkeit nur Lloyd begehrte. Dennoch löste sie sich erst von Charlie, als das Taxi hielt.
»Wie wär’s mit einem Schlummertrunk?«, fragte er.
Einen Augenblick war Daisy in Versuchung. Es war lange her, dass sie den Körper eines Mannes berührt hatte. Aber eigentlich wollte sie Charlie gar nicht. »Nein«, sagte sie. »Tut mir leid, Charlie, aber ich liebe einen anderen.«
»Wir müssen ja nicht gleich ins Bett«, flüsterte er. »Aber vielleicht können wir … du weißt schon … ein bisschen …«
Daisy stieg aus dem Taxi. Sie kam sich herzlos vor. Charlie riskierte jeden Tag sein Leben für sie, und sie gönnte ihm nicht einmal ein flüchtiges Vergnügen. »Gute Nacht, Charlie«, sagte sie, »und viel Glück.« Ehe sie es sich anders überlegen konnte, schlug sie die Taxitür zu und floh zum Haus.
Sie ging direkt nach oben. Ein paar Minuten später, als sie allein im Bett lag, fühlte sie sich erbärmlich. Sie hatte zwei Männer enttäuscht: Lloyd, indem sie Charlie küsste, und Charlie, indem sie ihm die kalte Schulter zeigte.
Fast den ganzen Sonntag verbrachte sie verkatert im Bett.
Am Montagmorgen bekam sie einen Anruf. »Ich bin Hank Bartlett«, sagte eine junge amerikanische Stimme, »ein Freund von Charlie Farquharson in Duxford. Er hat von Ihnen gesprochen, und ich habe Ihre Nummer in seinem Adressbuch gefunden.«
Daisy stockte das Herz. »Wieso rufen Sie an?«
»Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten«, sagte er. »Charlie ist heute gefallen. Er wurde über Abbeville abgeschossen.«
»Nein!«
»Es tut mir leid. Es war sein erster Einsatz mit seiner neuen Spitfire.«
»Er hat davon gesprochen«, sagte sie benommen.
»Ich dachte, Sie wüssten gern Bescheid.«
»Ja … ja, danke«, flüsterte sie.
»Er war hoffnungslos verknallt in Sie.«
»Wirklich?«
»Ja. Sie hätten mal hören sollen, wie er immerzu davon geredet hat, wie toll Sie sind.«
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich …« Die Stimme versagte ihr, und sie legte auf.
Chuck Dewar schaute Lieutenant Bob Strong, einem der Kryptoanalytiker, über die Schulter. Einige dieser Burschen waren Chaoten, doch Strong war von der ordentlichen Sorte und hatte nichts auf dem Schreibtisch liegen als ein einziges Blatt Papier:
YO-LO-KU-TA-WA-NA
»Ich kapier’s nicht«, sagte er niedergeschlagen. »Wenn das Signal korrekt entschlüsselt wurde, besagt es, dass sie Yolokutawana getroffen haben. Aber das ist sinnlos, dieses Wort gibt es nicht.«
Chuck starrte auf die sechs japanischen Silben. Er war sich ziemlich sicher, dass sie irgendetwas bedeuten mussten, obwohl er die Sprache nur ansatzweise kannte. Doch er kam einfach nicht darauf und machte schließlich mit seiner eigenen Arbeit weiter.
Im Old Administration Building herrschte gedrückte Stimmung.
Noch Wochen nach dem Überfall sahen Chuck und Eddie die aufgedunsenen Leichen aus den versenkten Schiffen auf dem öligen Wasser von Pearl Harbor treiben. Gleichzeitig ging aus den Meldungen, die sie bearbeiteten, hervor, dass die Japaner weitere vernichtende Angriffe geführt hatten. Nur drei Tage nach Pearl Harbor hatten japanische Flugzeuge den US -Stützpunkt auf der philippinischen Insel Luzon angegriffen und den gesamten Torpedovorrat der Pazifikflotte vernichtet. Am gleichen Tag versenkten japanische Marineflieger im Südchinesischen Meer zwei britische Großkampfschiffe, den Schlachtkreuzer Repulse und das Schlachtschiff Prince of Wales , wodurch die Briten in Fernost wehrlos dastanden.
Die Japaner schienen unaufhaltsam zu sein. Eine Hiobsbotschaft nach der anderen kam herein. In den ersten Monaten des neuen Jahres schlug Japan die US -Streitkräfte auf den Philippinen und besiegte die Briten in Hongkong, Singapur und Rangun, der Hauptstadt von Birma.
Viele Ortsnamen waren selbst Seeleuten wie Chuck und Eddie unbekannt. Für die amerikanische Öffentlichkeit klangen sie wie ferne Planeten in einer Science-Fiction-Geschichte: Guam, Wake, Bataan. Aber jeder kannte die Bedeutung von Rückzug, Niederlage und Kapitulation.
Chuck konnte es nicht fassen. Sollte Japan die USA tatsächlich niederringen? Für ihn war das kaum vorstellbar.
Bis Mai eroberten die Japaner, was sie wollten: Ein Imperium, das ihnen Gummi, Stahl, Zinn und – am allerwichtigsten – Öl verschaffte. Das wenige, was aus den besetzten Ländern durchsickerte,deutete darauf hin, dass sie ihr Reich mit einer Brutalität regierten, mit der sie sogar Stalin
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