Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Augen und schien zu schlafen.
»Wir müssen seine Finger richten«, sagte Carla, »damit die Knochen richtig verheilen können.« Sie berührte Rudis linke Hand. Keine Reaktion. Sie packte die Hand und hob sie hoch. Noch immer rührte Rudi sich nicht.
»Ich habe noch nie Knochen gerichtet«, sagte Hannelore. »Aber ich habe es schon oft gesehen.«
»Ist bei mir genauso«, erwiderte Carla. »Aber wir müssen es versuchen. Ich nehme die linke Hand, du die rechte. Wir müssen fertig sein, bevor die Wirkung des Morphiums nachlässt. Er wird, weiß Gott, auch so genug Schmerzen haben.«
»Also gut«, sagte Hannelore.
Carla erkannte einmal mehr, dass Maud recht hatte: Sie mussten alles tun, um dem Nazi-Regime ein Ende zu bereiten, selbst wenn das bedeutete, ihre Heimat zu verraten. Daran hegte sie nun keinen Zweifel mehr.
»Bringen wir es hinter uns«, sagte sie.
Vorsichtig machten die beiden Frauen sich daran, Rudis gebrochene Finger zu richten.
Thomas Macke ging jeden Freitagnachmittag in eine Kneipe namens »Tannenberg«.
An einer Wand hing ein gerahmtes Foto von Fritz, dem Wirt, das ihn fünfundzwanzig Jahre jünger und ohne Bierbauch in einer kaiserlichen Uniform zeigte. Er behauptete, in der Schlacht von Tannenberg neun Russen getötet zu haben.
Es gab zwar ein paar Tische und Stühle, aber die Stammgäste saßen allesamt am Tresen, und der Inhalt der in Leder gebundenen Speisekarte war größtenteils erfunden. Außer Wurst mit oder ohne Kartoffeln wurde hier nichts serviert. Noch nie hatte ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts die Küche betreten.
Die Kneipe lag dem Polizeirevier von Kreuzberg direkt gegenüber, sodass fast alle Gäste Polizisten waren. Und das wiederum hieß, dass man hier gegen die Vorschriften verstoßen konnte, wie man wollte. Man konnte sich dem Glücksspiel hingeben, sich auf der Toilette von einer Straßenhure einen blasen lassen und anderes mehr. Der Schuppen öffnete, wenn Fritz aufstand, und schloss, sobald der letzte Säufer nach Hause getaumelt war.
Vor der Machtübernahme der Nazis hatte Macke auf dem hiesigen Revier gearbeitet, und noch heute waren einige seiner ehemaligen Kollegen Gäste im Tannenberg, sodass er sicher sein konnte, hier stets ein paar Bekannte zu treffen. Er plauderte noch immer gerne mit den alten Freunden, obwohl er als Kommissar und SS -Offizier nun weit über ihnen stand.
»Das hast du gut gemacht, das muss man dir lassen«, sagte Bernhard Engel, der 1932 als Hauptwachtmeister Mackes Vorgesetzter gewesen war – und Hauptwachtmeister war er noch immer. »Ich wünsche dir viel Glück, mein Junge.« Er hob den Bierkrug, den Macke ihm spendiert hatte, an die Lippen.
»Da will ich dir nicht widersprechen«, erwiderte Macke. »Allerdings muss ich sagen, dass Kriminaldirektor Kringelein als Vorgesetzter viel schlimmer ist, als du es je warst.«
»Ich war zu weich zu euch Jungs«, gestand Bernhard.
Ein anderer alter Kollege, Franz Edel, lachte spöttisch. »Also, weich würde ich das nicht gerade nennen.«
Macke schaute aus dem Fenster und sah ein Motorrad auf der Straße halten. Der Fahrer war ein junger Mann im hellblauen Jackett eines Luftwaffenoffiziers. Er kam Macke irgendwie bekannt vor. Wo hatte er den Burschen schon mal gesehen? Der junge Mann hatte viel zu langes, rotblondes Haar, das ihm in die Stirn fiel. Er überquerte den Bürgersteig und kam ins Tannenberg.
Jetzt erinnerte Macke sich an den Namen. Das war Werner Franck, der verwöhnte Sohn des Radiofabrikanten Ludwig Franck.
Werner trat an den Tresen und fragte nach einer Schachtel Zigaretten. Er zahlte, öffnete die Schachtel, nahm eine Zigarette heraus und bat Fritz um Feuer. Als er sich zum Gehen wandte, die Zigarette keck im Mundwinkel, sah er Macke. Nach kurzem Nachdenken sagte er: »Hauptsturmführer Macke.«
Die Männer am Tresen starrten Macke an und warteten darauf, was dieser erwidern würde.
Macke nickte gelassen. »Wie geht es Ihnen, junger Freund?«
»Sehr gut, Herr Hauptsturmführer. Danke.«
Der respektvolle Tonfall überraschte Macke. Er erinnerte sich an Werner als arroganten Großkotz ohne Respekt vor Autoritäten.
»Ich bin gerade mit General Dorn von einem Besuch an der Ostfront zurückgekommen«, berichtete Werner.
Macke spürte, wie die anderen Gäste die Ohren spitzten. Einem Offizier, der an der Ostfront gewesen war, gebührte Respekt. Macke konnte sich ein Gefühl der Zufriedenheit nicht verkneifen, als er bemerkte, wie beeindruckt seine ehemaligen Kollegen
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