Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
was auf eine Umarmung schließen ließ. Dann gingen die beiden an der Wohnzimmertür vorbei und verschwanden nach oben.
Maud ging es jetzt erst einmal darum, sich davon zu überzeugen, dass Joachim das Dokument tatsächlich bei sich hatte. Sie sollte es sich ansehen, ihrer Bewunderung Ausdruck verleihen und es beiseitelegen. Anschließend würde sie Joachim unter einem Vorwand – Carla wagte nicht darüber nachzudenken, was das sein könnte – ins angrenzende Arbeitszimmer locken, einen kleinen, intimen Raum mit roten Samtvorhängen und einer alten, durchgesessenen Couch. Sobald sie dort waren, würde Maud das Zeichen geben.
Da es unmöglich war, den exakten Ablauf vorauszusehen, hatten Mutter und Tochter sich eine Reihe möglicher Signale ausgedacht, die alle das Gleiche bedeuteten. Das einfachste Zeichen war das laute Zuschlagen einer Tür. Die Alternative war ein Klingelknopf neben dem Kamin, der eine Schelle in der Küche läuten ließ – Teil eines mittlerweile überflüssigen Systems, mit dem früher die Dienerschaft gerufen worden war. Im Endeffekt würde jedes Geräusch diesen Zweck erfüllen. Notfalls würde Maud eine Vase oder die Goethebüste im Arbeitszimmer zu Boden stoßen.
Carla verließ das Wohnzimmer, verharrte im Flur und schaute die Treppe hinauf. Es war mucksmäuschenstill.
Sie ging zur Küche und warf einen Blick hinein. Ada schrubbte den gusseisernen Topf, in dem sie die Suppe gekocht hatte. Sie legte einen Schwung an den Tag, der zweifellos ihrer Anspannung entsprang. Carla schenkte ihr ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es ermutigend wirkte. Sie und Maud hätten die ganze Sache am liebsten vor Ada geheim gehalten. Nicht etwa, weil sie der Zofe nicht trauten – im Gegenteil, Ada war eine fanatische Nazi-Gegnerin –, sondern weil es sie zur Mitwisserin bei einem Landesverrat machte, und Mitwisserschaft wurde genauso mit dem Tod bestraft wie die Tat selbst. Aber sie lebten viel zu eng zusammen, als dass sie so etwas vor Ada hätten verbergen können.
Carla hörte ihre Mutter leise und auf eine ganz bestimmte Art lachen. Sie kannte dieses Lachen. Es wirkte aufgesetzt und ließ erkennen, dass Maud ihre Verführungskünste ausreizte.
Hatte Joachim das Dokument nun dabei oder nicht?
Ein, zwei Minuten später hörte Carla das Klavier. Es war ohne Zweifel Joachim, der das einfache Kinderlied spielte: ABC, die Katze lief im Schnee. Carlas Vater hatte es ihr hundert Mal vorgesungen. Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie sich daran erinnerte. Wie konnten die Nazis es wagen, solche Lieder zu spielen, wo sie so viele Kinder zu Waisen gemacht hatten?
Unvermittelt verstummte das Klavier. Carla lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören.
Eine Minute verging. Dann noch eine.
Irgendetwas war schiefgegangen. Aber was?
Carla schaute durch die Küchentür zu Ada, die nicht mehr den Topf schrubbte. Stattdessen breitete sie in einer Geste der Ratlosigkeit die Arme aus.
Carla musste herausfinden, was los war.
Leise stieg sie die Treppe hinauf.
Dann stand sie vor dem Salon und lauschte, hörte aber noch immer nichts: keine Klaviermusik, keine Bewegung, keine Stimmen.
Sie öffnete die Tür, so leise sie konnte, und spähte ins Zimmer. Niemand zu sehen. Sie trat ein und schaute sich um. Das Zimmer war leer.
Und Joachims Tasche war nirgends zu sehen.
Carla schaute zu der Doppeltür, die ins Arbeitszimmer führte. Eine der beiden Türhälften stand halb offen.
Auf Zehenspitzen schlich Carla durchs Zimmer. Hier gab es keinen Teppich, nur Parkett, und ihre Schritte waren nicht völlig lautlos; aber dieses Risiko musste sie eingehen.
Als sie die Tür erreichte, hörte sie ein Flüstern. Vorsichtig drückte sie sich an die Wand und riskierte einen Blick hinein.
Die beiden standen mitten im Zimmer, umarmten und küssten sich. Joachim stand mit dem Rücken zur Tür. Ohne Zweifel hatte Maud ihn absichtlich so gedreht. Während Carla beobachtete, unterbrach Maud den Kuss, blickte über Joachims Schulter, nahm die Hand von seinem Hals, starrte Carla an und deutete drängend nach rechts.
Carla sah die Tasche auf einem Stuhl liegen.
Sie wusste sofort, was schiefgegangen war. Als Maud Joachim ins Arbeitszimmer gebeten hatte, hatte der die Tasche nicht aus den Augen lassen wollen und sie mitgenommen.
Jetzt musste Carla sie stehlen.
Mit pochendem Herzen trat sie ins Zimmer.
Maud murmelte: »Oh ja, mach weiter so, mein süßer Junge …«
Joachim stöhnte auf und flüsterte: »Ich liebe
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