Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
erwischt.«
Macke seufzte. »Ich hoffe, Sie haben recht.«
An dem Tag, an dem Joachim Koch versprochen hatte, den Schlachtplan zu bringen, ging Carla nicht zur Arbeit.
Vermutlich hätte sie ganz normal die Frühschicht arbeiten und dennoch rechtzeitig zu Hause sein können, aber »vermutlich« reichte nicht. Es bestand stets die Gefahr, dass irgendwo ein Großfeuer ausbrach oder ein schwerer Unfall ihr Überstunden bescherte. Also blieb sie daheim.
Letztendlich hatte Maud den Leutnant gar nicht bitten müssen, ihr den Plan zu bringen. Joachim hatte ihr mitgeteilt, er müsse den Unterricht für diesen Tag absagen, hatte der Versuchung dann aber nicht widerstehen können und damit geprahlt, er müsse eine Kopie des Plans für den Fall Blau mit dem Motorrad durch die Stadt transportieren.
»Dann können Sie doch auf dem Weg zum Unterricht vorbeikommen«, hatte Maud gesagt, und Joachim hatte eingewilligt.
Während des Mittagessens herrschte große Anspannung. Carla und Maud aßen eine dünne Suppe aus Schinkenknochen und getrockneten Erbsen. Carla fragte nicht, was Maud hatte versprechenoder tun müssen, um Leutnant Koch zu überreden. Vielleicht hatte sie ihm damit geschmeichelt, was für großartige Fortschritte er mache und dass er es sich nicht leisten könne, eine Stunde zu versäumen. Oder sie hatte ihn mit der Frage provoziert, ob er wirklich so unbedeutend sei, dass er über jeden seiner Schritte Rechenschaft ablegen müsse. Für jemanden, der so gern prahlte wie Joachim Koch, musste das wie eine Ohrfeige sein.
Aber wahrscheinlich war es etwas ganz anderes gewesen – etwas, worüber Carla nicht einmal nachdenken wollte: Sex. Ihre Mutter flirtete offen und ziemlich gewagt mit dem jungen Leutnant, und der reagierte darauf mit sklavischer Hingabe. Carla nahm an, dass es diese unwiderstehliche Versuchung war, die Joachim zum Leichtsinn veranlasst hatte.
Oder war es ganz anders? Vielleicht war er inzwischen zur Vernunft gekommen. Vielleicht würde er heute Nachmittag mit einem Trupp Gestapo-Leute erscheinen.
Carla lud die Filmkassette in die Minox; dann legte sie die Kamera und die anderen zwei Kassetten in die oberste Schublade des Küchenschranks unter ein paar Handtücher. Der Schrank stand neben dem Fenster, wo das Licht besonders hell war. Carla wollte die Dokumente auf der Ablage fotografieren.
Sie wusste nicht, wie der belichtete Film nach Moskau gelangen würde, doch Frieda hatte ihr versichert, dafür sei gesorgt. Carla stellte sich einen Handlungsreisenden vor – einen Pharmavertreter vielleicht oder einen Händler für deutschsprachige Bibeln –, der die Genehmigung hatte, seine Waren in der Schweiz zu verkaufen, wo er den Film dann in der sowjetischen Botschaft in Bern abgeben würde.
Der Nachmittag zog sich in die Länge. Maud ging in ihr Zimmer, um sich ein wenig auszuruhen. Ada machte die Wäsche. Carla saß im Wohnzimmer, das sie dieser Tage kaum noch nutzten, und versuchte, ein bisschen zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. In der Zeitung standen ohnehin nur Lügen.
Schließlich schlug sie ein Lehrbuch auf und versuchte, sich auf ihre nächste Schwesternprüfung vorzubereiten, doch die medizinischen Fachbegriffe verschwammen vor ihren Augen. Stattdessen blätterte sie in einer alten Ausgabe von Im Westen nichts Neues , einem Roman über den Ersten Weltkrieg, der wegen seinerEhrlichkeit längst verboten war. Aber auch dafür fand sie nicht die nötige Ruhe. So starrte sie mit dem Buch in der Hand zum Fenster hinaus in die Junisonne, die auf die staubige Stadt schien.
Dann endlich kam jemand. Carla hörte draußen Schritte, sprang auf und spähte hinaus. Aber da war keine Gestapo, nur Joachim in frisch gestärkter Uniform und blank polierten Stiefeln. Sein attraktives Gesicht war voller Erwartung wie das eines Kindes vor der Geburtstagsfeier. Wie immer hatte er sich seine Tasche über die Schulter geworfen. Hatte er sein Versprechen gehalten? Enthielt die Tasche eine Kopie des Plans für den Fall Blau?
Er klingelte.
Von diesem Punkt an hatten Carla und Maud jeden Schritt geplant, und diesem Plan zufolge würde nicht Carla die Tür aufmachen, sondern Maud. Augenblicke später sah Carla ihre Mutter in einem purpurroten Hausmantel und hochhackigen Schuhen durch den Flur gehen – fast wie eine Prostituierte, dachte sie voller Scham. Sie hörte, wie die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Aus dem Flur waren das Rauschen von Seide und leises Gemurmel zu vernehmen,
Weitere Kostenlose Bücher