Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
als sie das Signal empfingen. Macke erkannte das charakteristische Geräusch. »Das ist ein Pianist«, sagte er erleichtert. Wenigstens konnte er Werner so beweisen, dass die Geräte funktionierten. Irgendjemand sendete fünfstellige Zahlen, eine nach der anderen. »Der sowjetische Geheimdienst verwendet einen Code, bei dem Zahlenpaare für Buchstaben stehen«, erklärte Macke. »Eine Elf zum Beispiel kann für ein A stehen. Sie in Fünfergruppen zu senden ist einfach nur Konvention.«
Der Fernmeldetechniker, ein Ingenieur mit Namen Mann, las die Koordinaten ab, und Wagner zeichnete mit Lineal und Bleistift eine Linie auf den Stadtplan. Richter fuhr wieder los.
Der Pianist sendete weiter, und das laute Piepen der Funksignale hallte durch die Kabine. Macke hasste den Mann jetzt schon, wer immer er sein mochte. »Dieses Kommunistenschwein!«, spie er hervor. »Eines Tages wird er in unserem Keller hocken, und dann wird er sich wünschen, endlich sterben zu dürfen.«
Werner sah blass aus, bemerkte Macke. Kein Wunder, er war die Polizeiarbeit nicht gewohnt. »So wie Sie den sowjetischen Code beschreiben, ist er wohl nicht allzu schwer zu knacken«, sagte Werner nachdenklich.
»Das stimmt«, gab Macke zu. »Aber ich habe das ein bisschen vereinfacht ausgedrückt. Natürlich sind diese Kerle raffinierter. Nachdem ein Pianist die Nachricht als Zahlenfolge codiert hat, schreibt er wiederholt ein Schlüsselwort darunter und codiert es ebenfalls. Dann zieht er die zweiten Zahlen von den ersten ab und sendet das Ergebnis.«
»Dann ist das ja kaum zu entschlüsseln, wenn man das Codewort nicht kennt.«
»Genau.«
Sie hielten neben dem ausgebrannten Reichstagsgebäude und zeichneten eine weitere Linie auf den Stadtplan. Die beiden Linien trafen sich in Friedrichshain, östlich vom Stadtzentrum.
Macke befahl dem Fahrer, nach Nordosten zu fahren, um von dort eine dritte Linie einmessen zu können. »Die Erfahrung zeigt, dass man am besten drei Messungen vornimmt«, erklärte Macke. »Aus den einzelnen Messungen ergeben sich nur Annäherungswerte, und mit zusätzlichen Messungen verringern wir die Fehlerwahrscheinlichkeit.«
»Und schnappen Sie den Pianisten jedes Mal?«, fragte Werner.
»Nein. Häufig entkommt er uns, weil wir nicht schnell genug sind. Oder er wechselt nach der Hälfte die Frequenz, sodass wir das Signal verlieren. Manchmal wird die Übertragung auch mittendrin abgebrochen und von einem anderen Ort aus fortgesetzt. Oder der Pianist hat Mittäter, die für ihn Schmiere stehen und ihn warnen, sobald wir anrücken.«
»Das sind aber eine Menge Unsicherheiten.«
»Macht nichts. Früher oder später schnappen wir sie trotzdem.«
Richter hielt den Wagen an, und Mann nahm eine dritte Messung vor. Die drei Bleistiftlinien auf Wagners Karte vereinten sich zu einem kleinen Dreieck in der Nähe des Ostbahnhofs. Der Pianist befand sich irgendwo zwischen der Bahnlinie und dem Kanal.
Macke gab den Ort an Richter weiter und befahl: »So schnell Sie können.«
Macke fiel auf, dass Werner schwitzte. Vielleicht war ihm im Wagen zu heiß; außerdem lernte er gerade erst, wie das Leben bei der Gestapo war. Umso besser, dachte Macke.
Richter fuhr auf der Warschauer Straße Richtung Süden, wo die Straße die Gleise überquerte; dann bog er in ein Industrieviertel ab, wo Lagerhäuser und kleine Fabriken standen. Ein paar Soldaten schleppten ihre Seesäcke in den Bahnhof. Ohne Zweifel waren sie auf dem Weg an die Ostfront. Gleichzeitig gab irgendwo hier in der Nähe ein Landsmann sein Bestes, um diese Männer zu verraten, dachte Macke wütend.
Wagner deutete auf eine schmale Straße, die vom Bahnhof wegführte. »Er ist da irgendwo auf den ersten hundert Metern, aber ich weiß nicht, auf welcher Seite«, sagte er. »Und wenn wir mit dem Wagen näher heranfahren, wird er uns sehen.«
»Also gut, Leute, ihr wisst, wie das läuft«, sagte Macke. »Wagner und Richter nehmen die linke Seite, Schneider und ich dierechte.« Sie alle schnappten sich langstielige Vorschlaghämmer. »Oberleutnant Franck, Sie kommen am besten mit mir.«
Es waren nur wenige Leute auf der Straße, darunter ein Mann mit Arbeitermütze auf dem Weg zum Bahnhof und eine ältere Frau in schäbigen Kleidern. Sie liefen rasch an Macke und den anderen vorbei, um nicht die Aufmerksamkeit der Gestapo zu erregen.
Macke und seine Leute betraten nacheinander das Gebäude und sicherten sich dabei gegenseitig. Die meisten Geschäfte hatten bereits geschlossen,
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