Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
zum Vorschein, an dem acht Haken befestigt waren.
»Zum Hängen?«, fragte Werner.
Macke nickte.
Außerdem gab es einen Holztisch mit Riemen, um jemanden darauf festzubinden; an einem Ende des Tisches befand sich eine Vorrichtung, deren Form unverkennbar war. Auf der anderen Seite stand ein Korb.
Der junge Leutnant wurde bleich und schluckte. »Eine Guillotine.«
»Ganz recht«, bestätigte Macke und schaute auf die Uhr. »Man wird uns nicht mehr lange warten lassen.«
Weitere Männer kamen in den Raum. Mehrere von ihnen nickten Macke zur Begrüßung zu. »Die Vorschriften verlangen, dass der Richter, die Schöffen, der Gefängnisdirektor und der Kaplan der Hinrichtung beiwohnen«, raunte Macke Werner ins Ohr.
Werner schluckte. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, was er hier sah. Es sollte ihm auch nicht gefallen: Macke hatte ihn nicht mit hierher genommen, um General Dorn zu beeindrucken. Er machte sich Sorgen um Werner. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
Werner arbeitete für Dorn; das stand außer Frage. Er hatteden General bei einem Besuch der Gestapo-Zentrale begleitet. Anschließend hatte Dorn einen Bericht geschrieben, in dem stand, die Berliner Gegenspionage sei äußerst beeindruckend. In dem Bericht hatte er Macke sogar namentlich erwähnt, was ihn noch immer mit Stolz erfüllte.
Doch Macke konnte Werners Verhalten von vor einem Jahr nicht vergessen, als sie in der verwaisten Gerberei am Ostbahnhof beinahe einen Spion gefasst hätten. Werner war in Panik geraten. Egal ob zufällig oder nicht, er hatte dem Spion die Flucht ermöglicht. Macke wurde den Verdacht nicht los, dass Werners Panik nur gespielt gewesen war und dass er den Radau bewusst ausgelöst hatte.
Doch Macke wagte es nicht, Werner zu verhaften und verhören zu lassen. Natürlich wäre es ihm möglich gewesen, aber General Dorn könnte intervenieren, und dann würde man ihn, Macke, genauer unter die Lupe nehmen. Sein Chef, Kriminaldirektor Kringelein, der ihn nicht sonderlich mochte, würde ihn fragen, welche Beweise er gegen Werner habe … und er hatte keine.
Aber das hier würde schon die Wahrheit ans Licht bringen.
Die Tür öffnete sich erneut, und zwei Gefängniswärter führten eine junge Frau namens Lili Markgraf herein.
Macke hörte, wie Werner nach Luft schnappte.
»Was ist?«, fragte er.
»Sie haben mir nicht gesagt, dass es eine junge Frau ist.«
»Kennen Sie die Frau?«
»Nein.«
Lili war zweiundzwanzig, das wusste Macke, doch sie sah jünger aus. Ihr blondes Haar war an diesem Morgen so kurz wie das eines Mannes geschnitten worden. Sie humpelte und ging leicht vornübergebeugt, als hätte sie Leibschmerzen. Sie trug ein schlichtes, kragenloses blaues Kleid aus schwerer Baumwolle. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Die Wärter hielten sie an den Armen; sie wollten kein unnötiges Risiko eingehen.
»Diese Frau wurde von einer Verwandten denunziert, die ein russisches Codebuch in ihrem Zimmer gefunden hat«, erklärte Macke.
»Warum läuft sie so seltsam?«
»Das ist eine Nachwirkung des Verhörs. Leider haben wir trotzdem nichts aus ihr herausbekommen.«
Werner hatte eine gleichgültige Miene aufgesetzt. »Eine Schande«, sagte er. »Sie hätte uns zu weiteren Spionen führen können.«
Macke sah keinen Hinweis darauf, dass Werner ihm nur etwas vorspielte. »Diese Frau kannte ihren Verbindungsmann nur als ›Heinrich‹, kein Nachname, und auch der Vorname könnte ein Pseudonym sein. Frauen zu verhaften bringt meiner Meinung nach nicht viel. Sie wissen einfach nicht genug.«
»Aber wenigstens haben Sie ihr Codebuch.«
»Was immer es uns nützen soll. Sie ändern regelmäßig das Schlüsselwort, sodass wir mit der Dechiffrierung einfach nicht vorankommen.«
»Zu schade.«
Einer der Männer räusperte sich und sprach laut genug, dass alle ihn hören konnten. Er stellte sich als Gerichtvorsitzenden vor und verlas anschließend das Todesurteil.
Die Wärter führten Lili zum Holztisch. Dort gaben sie ihr kurz Gelegenheit, sich freiwillig hinzulegen, doch sie wich einen Schritt zurück, sodass die Männer sie nach unten drücken mussten. Lili wehrte sich nicht. Mit dem Gesicht nach unten schnallten die Wärter sie fest.
Der Kaplan sprach ein Gebet.
»Nein«, sagte Lili, ohne die Stimme zu heben. »Nein, bitte, lasst mich gehen. Lasst mich gehen.« Sie sprach so ruhig und zusammenhängend, als würde sie jemanden um einen Gefallen bitten.
Der Mann im Zylinder schaute zum Vorsitzenden, worauf dieser den Kopf
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