Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
schüttelte. »Noch nicht«, sagte er. »Das Gebet muss zu Ende gesprochen sein.«
Nun hob Lili doch die Stimme. »Ich will nicht sterben! Ich habe Angst! Bitte, tun Sie mir das nicht an! Bitte!«
Wieder schaute der Henker zum Vorsitzenden. Diesmal ignorierte der ihn einfach.
Macke ließ Werner keine Sekunde aus den Augen. Der junge Oberleutnant fühlte sich sichtlich unwohl, aber das galt für fast alle in diesem Raum. Macke musste erkennen, dass er sich geirrt hatte: Der Besuch der Hinrichtung taugte nicht als Test, wie er es sich erhofft hatte. Werners Reaktion bewies, dass er sensibel war, aber nicht, dass es sich bei ihm um einen Verräter handelte. Macke musste sich etwas anderes einfallen lassen.
Lili begann zu schreien.
Selbst Macke wurde nun ungeduldig.
Der Priester beeilte sich mit seinem Gebet.
Als er »Amen« sagte, verstummten Lilis Schreie, als wüsste sie, dass nun alles vorbei war.
Der Vorsitzende nickte.
Der Henker zog an einem Hebel, und das Beil sauste herab.
Mit einem Zischen durchschnitt es Lilis bleichen Hals, und ihr kurz geschorener Kopf fiel in einem Blutstrom in den Korb.
Macke kam ein absurder Gedanke: Ob der Kopf wohl noch Schmerz empfand?
Carla traf Oberst Beck im Krankenhausflur. Er trug Uniform. Sie musterte ihn ängstlich. Seit seiner Entlassung hatte sie täglich mit der Furcht gelebt, er könne sie verraten haben und dass die Gestapo bereits unterwegs sei.
Aber Beck lächelte und sagte: »Ich komme gerade von einer Untersuchung bei Dr. Ernst.«
War das alles? Hatte er ihr Gespräch vergessen? Oder tat er nur so? Wartete draußen bereits eine schwarze Gestapo-Limousine?
Beck hielt eine grüne Krankenhausaktenmappe in der Hand.
Ein Krebsspezialist im weißen Kittel kam in ihre Richtung. Als er an ihnen vorbei war, fragte Carla: »Wie geht es Ihnen, Herr Oberst?«
»Gesünder werde ich nicht mehr. Ich werde nie mehr ein Regiment in die Schlacht führen, und mit dem Sport ist es auch vorbei. Aber abgesehen davon kann ich ein normales Leben führen.«
»Das freut mich zu hören.«
Weitere Leute gingen an ihnen vorbei. Carla befürchtete, dass Beck nie unter vier Augen mit ihr würde sprechen können.
»Ich möchte mich für Ihre Freundlichkeit und Ihre Professionalität bedanken, Schwester.«
»Das war doch selbstverständlich.«
»Auf Wiedersehen, Schwester Carla.«
»Auf Wiedersehen, Herr Oberst.«
Als Beck ging, hielt Carla die Aktenmappe in der Hand.
Mit schnellen Schritten ging sie zur Umkleide. Der Raum war leer. Sie stellte sich mit der Ferse an die Tür, sodass niemand hereinkommen konnte.
In der Aktenmappe befand sich ein großer Umschlag, wie man ihn in jedem Amt verwendete. Carla öffnete ihn. Er enthielt mehrere mit Maschine geschriebene Seiten. Sie schaute sich die erste Seite an, ohne sie ganz aus dem Umschlag zu ziehen. Die Überschrift lautete:
Operationsbefehl Nr. 6
Operation Zitadelle
Es war der Plan für die Sommeroffensive an der Ostfront!
Carlas Herz schlug schneller. Das war ein Volltreffer.
Sie musste den Umschlag an Frieda weitergeben, so schnell es ging. Leider hatte sie heute ihren freien Tag. Carla dachte darüber nach, das Krankenhaus sofort zu verlassen, mitten in ihrer Schicht, und zu Frieda zu fahren, verwarf den Gedanken aber rasch wieder. Es war besser, wenn sie sich normal verhielt, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.
Sie steckte den Umschlag in ihre Umhängetasche, die an dem Garderobenhaken hing, legte den blau-goldenen Seidenschal darauf, den sie immer bei sich trug, um etwas darunter verbergen zu können, und wartete einen Moment, bis ihre Atmung sich normalisiert hatte. Dann ging sie auf ihre Station.
Den Rest ihrer Schicht arbeitete sie, so gut sie konnte; dann schnappte sie sich Mantel und Tasche, verließ das Krankenhaus und ging zum Bahnhof. Als sie an einem ausgebombten Haus vorbeikam, sah sie einen Schriftzug in den Trümmern des Gebäudes. Ein trotziger Nazi hatte geschrieben: »Unsere Mauern mögen brechen, unsere Herzen nicht.« Doch jemand anders hatte ironisch Hitlers Wahlkampfspruch von 1933 zitiert: »Gebt mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutschland nicht wiedererkennen.«
Carla kaufte sich eine Fahrkarte zum Bahnhof Zoo.
Im Zug kam sie sich wie eine Fremde vor. Wahrscheinlich waren alle anderen Fahrgäste gute, aufrechte Deutsche – und sie hatte Staatsgeheimnisse in der Tasche, die sie an Moskau verraten wollte. Dieser Gedanke machte ihr zu schaffen. Niemand schautesie an; dennoch kam
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