Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
es ihr vor, als würden die Leute sich absichtlich von ihr abwenden. Sie konnte es kaum erwarten, Frieda den Umschlag zu geben.
Der Bahnhof Zoo lag unweit des Tiergartens. Die Bäume wurden von einem riesigen Flakturm überragt. Es war einer von drei solchen Türmen in Berlin, ein gewaltiger Betonklotz von über fünfzig Metern Höhe. An den Ecken des Daches waren vier große 12,8-cm-Flugabwehrskanonen montiert, die jeweils fünfundzwanzig Tonnen wogen. Der Beton war grün gestrichen, damit das Monstrum im Grün des Parks nicht ganz so unangenehm auffiel.
Doch so hässlich der Turm auch sein mochte, die Berliner liebten ihn. Wenn die Bomben fielen, versicherte ihnen das Donnern seiner Geschütze, dass jemand zurückschoss.
Noch immer angespannt ging Carla vom Bahnhof zum Haus der Francks. Es war früh am Nachmittag, also würden Friedas Eltern wohl außer Haus sein: Ludwig in seiner Fabrik und Monika bei einer Freundin, vielleicht bei Maud. Werners Motorrad parkte in der Einfahrt.
Der Diener öffnete die Tür. »Fräulein Frieda ist außer Haus, aber sie wird nicht lange fortbleiben«, sagte er. »Sie ist ins KaDeWe, um sich ein Paar Handschuhe zu kaufen. Herr Werner liegt mit einer schweren Erkältung im Bett.«
»Ich werde in ihrem Zimmer auf Frieda warten«, antwortete Carla, »wie immer.«
Sie zog ihren Mantel aus und ging nach oben. Die Tasche nahm sie mit. In Friedas Zimmer trat sie sich die Schuhe von den Füßen und legte sich aufs Bett, um den Plan für die Operation Zitadelle zu lesen. Ihre Hände zitterten; sie war angespannt wie eine überdrehte Uhr.
Plötzlich hörte sie ein Schluchzen aus dem Nebenzimmer.
Verwundert hielt sie inne. Das war Werners Zimmer. Es fiel Carla schwer, sich diesen Gigolo in Tränen aufgelöst vorzustellen. Doch das Geräusch stammte unverkennbar von einem Mann, der erfolglos versuchte, seine Trauer zu verbergen.
Carla steckte die Dokumente in ihre Tasche, ging hinaus und lauschte an Werners Tür. Jetzt hörte sie das Weinen deutlicher. Mitleid überkam sie. Sie brachte es nicht übers Herz, Werners Schmerz zu ignorieren. Kurz entschlossen öffnete sie die Tür.
Werner saß auf der Bettkante, den Kopf in den Händen. Er hatte die Krawatte abgenommen und den Hemdkragen geöffnet. Als die Tür sich öffnete, hob er den Blick und riss überrascht die Augen auf. Sein Gesicht war rot vom Weinen. Er starrte Carla an, und sie sah den Schmerz in seinen Augen. Er schien sich so elend zu fühlen, dass es ihn nicht einmal kümmerte, wer davon wusste und wer nicht.
»Was ist los?«, fragte Carla.
»Ich kann das nicht mehr …«
Sie schloss die Tür hinter sich. »Was ist denn passiert?«
»Sie haben Lili Markgraf den Kopf abgeschlagen … und ich musste zusehen.«
Carla starrte ihn offenen Mundes an. »Wovon sprichst du?«
»Sie war zweiundzwanzig Jahre alt …« Werner zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich damit übers Gesicht. »Du bist ohnehin schon in Gefahr, und wenn ich es dir erzähle, wird die Gefahr noch viel größer.«
In Carlas Kopf überschlugen sich die Gedanken und verdichteten sich zu abenteuerlichen Vermutungen. »Ich glaube, ich kann es mir denken«, sagte sie. »Erzähl es mir trotzdem.«
»Also gut.« Werner nickte. »Du wirst es sowieso bald erfahren. Lili hat Heinrich geholfen, Nachrichten nach Moskau zu senden. Es geht viel schneller, wenn jemand dem Funker die Codefolgen vorliest, und je schneller man ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man erwischt wird. Aber Lilis Cousine, die ein paar Tage bei ihr gewohnt hat, hat die Codebücher gefunden. Diese verdammte Nazi-Hexe …«
Seine Worte bestätigten Carlas Vermutung. »Du weißt von der Spionage?«
Werner schaute sie an und grinste schief. »Ich bin der Chef.«
»Was?«
»Deshalb musste ich auch die Sache mit den ermordeten Kindern auf sich beruhen lassen. Moskau hat es mir befohlen. Und sie hatten recht. Hätte ich meinen Posten im Luftfahrtministerium verloren, hätte ich keinen Zugang mehr zu Geheimpapieren oder Personen gehabt, die mir Geheimnisse zutragen konnten.«
Carla musste sich setzen. Sie kauerte sich neben Werner auf die Bettkante. »Warum hast du mir das nie erzählt?«
»Weil unter der Folter jeder redet. Wenn man nichts weiß, kann man auch nichts verraten. Diese Schweine haben Lili gefoltert. Aber sie kannte nur Wolodja, der in Moskau ist, und Heinrich, von dem sie nur den Vornamen kannte. Sonst wusste sie nichts.«
Carla schauderte. Jeder
Weitere Kostenlose Bücher