Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Lloyd. »Ich frage mich, ob es Sie umstimmen könnte.«
»Das bezweifle ich«, erwiderte Boy. »Aber wenn Sie schon hier sind – bitte sehr, versuchen Sie’s.« Er setzte sich, ohne Lloyd einen Platz anzubieten.
Du hast es dir selbst zuzuschreiben , dachte Lloyd.
Aus der Jackentasche nahm er eine verblasste Sepiafotografie. »Seien Sie so freundlich, und sehen Sie sich dieses Bild von mir an.« Er legte es neben Boys Aschenbecher auf den Beistelltisch.
Boy nahm das Foto in die Hand. »Das sind nicht Sie. Der Mann sieht aus wie Sie, aber die Uniform ist aus viktorianischer Zeit. Das muss Ihr Vater sein.«
»Mein Großvater. Drehen Sie es um.«
Boy las die Aufschrift auf der Rückseite. »Earl Fitzherbert?«
»Jawohl. Der ehemalige Earl, Ihr Großvater – und meiner. Daisy hat das Foto auf Tŷ Gwyn gefunden.« Lloyd atmete tiefdurch. »Sie haben zu Daisy gesagt, niemand wisse, wer mein Vater sei. Nun, ich kann es Ihnen sagen: Es ist Earl Fitzherbert. Wir sind Brüder.« Er wartete auf Boys Reaktion.
Boy lachte. »Absurd!«
»Genau meine Reaktion, als ich davon erfahren habe.«
»Nun, ich muss sagen, Sie haben mich überrascht. Ich dachte, Sie würden sich etwas Besseres einfallen lassen als diese alberne Fantasiegeschichte.«
Lloyd hatte gehofft, die Enthüllung würde Boy so sehr mitnehmen, dass ein Sinneswandel eintrat, aber bislang funktionierte es nicht. Dennoch setzte er seine Argumentation fort. »Kommen Sie, Boy – wie unwahrscheinlich ist das denn? Passiert so etwas in den großen Häusern denn nicht dauernd? Hausmädchen sind hübsch, junge Adelssprosse sind geil, und die Natur nimmt ihren Lauf. Wenn ein Kind auf die Welt kommt, wird die Sache vertuscht. Tun Sie doch nicht so, als wüssten Sie nicht, dass solche Dinge vorkommen.«
»Zweifellos geschieht so etwas oft genug.« Boys Selbstsicherheit war angeschlagen, aber er polterte einfach weiter. »Wahrscheinlich gibt es deshalb so viele Leute, die behaupten, mit der Aristokratie verwandt zu sein.«
»Oh, bitte«, erwiderte Lloyd geringschätzig. »Ich möchte keine Verwandtschaft zur Aristokratie. Ich bin kein Tuchverkäufer, der sich in Träumen von Größe ergeht. Ich komme aus einer Familie angesehener sozialistischer Politiker. Mein Großvater mütterlicherseits gehörte zu den Gründern der südwalisischen Bergarbeitergewerkschaft. Eine außereheliche Verwandtschaft mit einem konservativen Angehörigen des Hochadels ist das Letzte, was ich gebrauchen kann. Das bringt mich in größte Verlegenheit.«
Boy lachte wieder, aber längst nicht mehr so überzeugt. »Es bringt Sie in Verlegenheit? Das nenne ich Snobismus – nur auf den Kopf gestellt.«
»Auf den Kopf gestellt? Ich habe größere Chancen als Sie, Premierminister zu werden.« Lloyd begriff, dass die Auseinandersetzung zu einem Kräftemessen entartet war, und das wollte er nicht. »Wie auch immer«, sagte er, »ich versuche nur, Ihnen klarzumachen, dass Sie nicht den Rest Ihres Lebens damit verbringen können, sich an mir zu rächen – und sei es nur, weil wir Brüder sind.«
»Ich glaube es noch immer nicht«, sagte Boy, stellte das Foto auf den Beistelltisch und nahm seine Zigarre.
»Ich habe es zuerst auch nicht geglaubt.« Lloyd ließ nicht locker; seine Zukunft stand auf dem Spiel. »Dann wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass meine Mutter auf Tŷ Gwyn gearbeitet hat, als sie schwanger wurde, und dass sie immer ausgewichen ist, wenn es um die Identität meines Vaters ging, und dass sie kurz vor meiner Geburt irgendwoher die Mittel erhielt, ein Haus mit vier Zimmern in London zu kaufen. Als ich sie mit meinem Verdacht konfrontierte, gab sie die Wahrheit zu.«
»Das ist lachhaft.«
»Aber Sie wissen, dass es stimmt, nicht wahr?«
»Ich weiß nichts dergleichen.«
»Doch, Sie wissen es. Um unserer Blutsverwandtschaft willen, wollen Sie nicht anständig sein?«
»Ganz gewiss nicht.«
Lloyd begriff, dass er nicht siegen würde. Er war niedergeschlagen. Boy besaß die Macht, Lloyds Leben zu zerstören, und er war entschlossen, diese Macht zu nutzen.
Lloyd nahm das Foto an sich und steckte es zurück in die Tasche. »Irgendwann werden Sie Ihren Vater danach fragen. Sie werden sich nicht ewig beherrschen können. Irgendwann wollen Sie die Wahrheit erfahren.«
Boy gab einen verächtlichen Laut von sich.
Lloyd wandte sich zum Gehen. »Ich glaube, er wird Ihnen die Wahrheit sagen. Auf Wiedersehen, Boy.«
Er ging hinaus und schloss die Tür hinter
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