Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
redet unter der Folter.
»Tut mir leid, dass ich dir das erzählt habe«, fuhr Werner fort, »aber nachdem du mich so gesehen hast, hättest du es ohnehin erraten.«
»Ich glaube, ich habe ich dich vollkommen falsch eingeschätzt«, sagte Carla.
»Das ist nicht deine Schuld. Ich habe dich ja auch absichtlich auf eine falsche Fährte geführt.«
»Trotzdem komme ich mir dumm vor. Zwei Jahre lang habe ich dich verachtet.«
»Und ich habe mich die ganze Zeit danach gesehnt, dir alles erklären zu können.«
Carla legte den Arm um ihn.
Werner nahm ihre Hand und küsste sie. »Kannst du mir verzeihen?«
Carla war sich ihrer Gefühle nicht sicher, wollte ihn aber nicht zurückweisen, erst recht nicht in seinem Zustand; deshalb antwortete sie: »Ja, natürlich.«
»Die arme Lili.« Werners Stimme war nur noch ein Flüstern. »Sie wurde so übel zusammengeschlagen, dass sie kaum noch zur Guillotine gehen konnte. Trotzdem hat sie bis zum Schluss um ihr Leben gefleht.«
»Wie kommt es, dass du dort gewesen bist?«
»Ich habe mich mit einem Gestapo-Mann angefreundet, einem Kriminalkommissar und Hauptsturmführer der SS . Der Mann heißt Macke.«
»Macke? Mein Gott, ich kenne diesen Kerl! Er hat meinen Vater verhaftet.« Carla erinnerte sich lebhaft an den Mann mit dem runden Gesicht und dem kleinen schwarzen Schnurrbart.
»Ich glaube, er hat mich irgendwie in Verdacht«, sagte Werner. »Dass ich bei der Hinrichtung dabei sein musste, war vermutlich eine Art Test. Vielleicht hat Macke geglaubt, ich würde die Selbstbeherrschung verlieren. Nun, wenn es darum ging, dürfte ich den Test bestanden haben.«
»Aber wenn man dich verhaften würde …«
Werner nickte. »Jeder redet unter der Folter.«
»Und du weißt alles.«
»Ich kenne jeden Agenten und jeden Code. Ich weiß nur nicht, von wo sie senden. Das überlasse ich den Leuten selbst, und sie erzählen es mir nicht.«
Eine Zeit lang hielten sie sich schweigend bei den Händen. Schließlich sagte Carla: »Eigentlich bin ich gekommen, weil ich Frieda etwas bringen wollte, aber ich kann es genauso gut dir geben.«
»Und was?«
»Den Plan für die Operation Zitadelle.«
Werner war wie elektrisiert. »Ich versuche seit Wochen, diesen Plan in die Finger zu bekommen! Wo hast du ihn her?«
»Von einem Offizier im Generalstab. Ich sollte seinen Namen lieber nicht erwähnen.«
»Stimmt, sag ihn mir nicht. Aber ist der Plan auch echt?«
»Du kannst ihn dir anschauen.« Carla ging in Friedas Zimmer und kam mit dem großen Umschlag zurück. »Für mich sieht er echt aus, aber was weiß ich schon.«
Werner zog die Dokumente aus dem Umschlag und besah sie sich. Schließlich sagte er: »Die sind echt. Das ist unglaublich!« Er sprang auf. »Ich muss das sofort zu Heinrich bringen. Wir müssen es verschlüsseln und noch heute Nacht senden.«
Carla war ein wenig enttäuscht, dass der Moment der Zweisamkeit so schnell vorbei war; allerdings hätte sie auch nicht sagen können, was sie erwartet hatte.
Sie holte ihre Tasche aus Friedas Zimmer und folgte Werner nach unten.
An der Tür sagte er: »Ich bin froh, dass wir wieder Freunde sind.«
Er gab ihr einen Kuss auf den Mund und öffnete die Tür. Gemeinsam verließen sie das Haus. Während Werner auf sein Motorrad stieg, ging Carla die Einfahrt hinunter und in Richtung Bahnhof. Augenblicke später fuhr Werner hupend und winkend an ihr vorbei.
Nachdenklich blickte Carla ihm hinterher. Zwei Jahre lang hatte sie geglaubt, diesen Mann zu hassen; dabei hatte sie in ihremHerzen stets einen Platz für ihn freigehalten. Hatte sie ihre Liebe zu ihm bewahrt?
Sie wusste es nicht.
Macke hatte auf dem Rücksitz des schwarzen Mercedes Platz genommen. Neben ihm saß Werner. Um Mackes Hals hing eine Tasche. Er trug sie wie einen Schulranzen, allerdings auf der Brust, nicht auf dem Rücken. Sie war klein genug, dass sie unter seinem Mantel nicht zu sehen war. Ein dünner Draht führte von der Tasche zu einem Knopf, den Macke im Ohr trug. Es handelte sich um ein modernes Peilgerät, dessen Signal umso lauter wurde, je näher man einem Sender kam. Vor allem hatte es den Vorteil, dass es unauffälliger war als eine Antenne auf dem Dach eines Lieferwagens.
Macke starrte düster vor sich hin. Er steckte in großen Schwierigkeiten. Die Operation Zitadelle war eine Katastrophe gewesen. Noch vor Beginn der Offensive hatte die Rote Luftflotte die Flugfelder angegriffen, auf denen die Luftwaffe sich zusammengezogen hatte. Bereits nach einer
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