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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sich.

K A P I T E L  1 6
    1943 (II)
    Oberst Alfred Beck bekam im März 1942 bei Charkow eine russische Kugel in den rechte Lungenflügel. Er hatte Glück: Ein Feldarzt legte eine Bülau-Drainage, sodass die Lunge sich wieder entfalten konnte, und rettete ihm auf diese Weise das Leben. Geschwächt vom Blutverlust und der unvermeidlichen Infektion wurde Beck in einen Zug Richtung Heimat gesetzt und landete schließlich in dem Krankenhaus in Berlin, in dem Carla arbeitete.
    Beck war ein zäher, drahtiger Mann Anfang vierzig, frühzeitig kahl geworden und mit einem vorstehenden Kinn wie dem Bug eines Wikingerlangschiffs. Als er zum ersten Mal mit Carla sprach, war sein Verstand von Medikamenten und Fieber vernebelt, und er war auf gefährliche Weise indiskret. »Wir werden den Krieg verlieren«, sagte er.
    Carla spitzte die Ohren. Ein unzufriedener Offizier war eine potenzielle Informationsquelle. Beiläufig sagte sie: »In den Zeitungen heißt es, wir würden unsere Front im Osten begradigen.«
    Beck lachte spöttisch auf. »Im Klartext heißt das, wir ziehen uns zurück.«
    Carla zog ihm weiter die Würmer aus der Nase. »In Italien sieht es auch nicht gut aus, nicht wahr?« Am 13. Mai hatten die deutschen und italienischen Truppen in Tunesien kapituliert, und Italien sah der alliierten Invision entgegen.
    »Es sieht nirgendwo gut aus. Erinnern Sie sich noch an 1939 und 1940?«, fragte Beck in einer Anwandlung von Nostalgie. »Damals haben wir einen brillanten Blitzsieg nach dem anderen gefeiert. Was war das für eine Zeit …«
    Offensichtlich war er kein Ideologe. Vielleicht war er nicht einmal politisch interessiert. Beck schien ein vaterlandsliebender, desillusionierter Offizier zu sein, der sich nichts mehr vormachte.
    Carla hakte nach. »Aber es kann doch wohl nicht stimmen, dass es der Wehrmacht an allem fehlt, von Munition bis hin zu Unterhosen.« Diese scheinbar unverfänglichen Bemerkungen – in Wahrheit ein behutsames Auskundschaften – waren gefährlicher als je zuvor, aber gar nicht mehr so ungewöhnlich im Berlin dieser Tage.
    »Leider stimmt es doch.« Beck stand unter starkem Medikamenteneinfluss, konnte sich aber noch einigermaßen deutlich artikulieren. »Deutschland kann einfach nicht so viele Gewehre und Panzer produzieren wie die Sowjetunion, Großbritannien und die Vereinigten Staaten zusammen – besonders nicht, wenn unsere Fabriken ständig bombardiert werden. Und ganz egal, wie viele Russen wir töten, die Rote Armee scheint einen unerschöpflichen Vorrat an Rekruten zu haben.«
    »Was wird geschehen? Was glauben Sie?«
    »Die Nazis werden ihre Niederlage nie eingestehen, also werden weiter Menschen sterben … Millionen. Und das nur, weil die Nazis zu stolz sind, um zu kapitulieren. Was für ein Wahnsinn …« Er schlief ein.
    Man musste schon verrückt oder lebensmüde sein, um solche Gedanken laut auszusprechen, doch Carla war sicher, dass immer mehr Menschen so dachten. Trotz der erbarmungslosen Regierungspropaganda wurde immer offensichtlicher, dass Hitlerdeutschland den Krieg verlor.
    Der Tod Joachim Kochs war nicht von der Polizei untersucht worden. In der Zeitung hatte gestanden, er sei einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. Carla hatte den anfänglichen Schock zwar überwunden; aber dann und wann kam ihr noch immer zu Bewusstsein, dass sie an der Ermordung dieses Mannes beteiligt gewesen war, und sie durchlebte die Tat noch einmal. Jedes Mal zitterte sie am ganzen Leib und musste sich setzen. Einmal hatte sie sogar im Dienst einen solchen Anfall erlitten, hatte ihn jedoch überspielen können und ihren Kollegen gegenüber als Hungerschwäche bezeichnet – ein leider häufiges Phänomen in dem vom Krieg gebeutelten Berlin.
    Doch Carlas Mutter ging es noch viel schlechter. Es war seltsam, dass sie Joachim Koch geliebt hatte, diesen schwachen, dummen Jungen, doch Liebe ließ sich nun mal nicht erklären. Carla selbst hatte sich ja auch in Werner Franck geirrt. Sie hatte ihn für starkund tapfer gehalten, hatte dann aber erkennen müssen, wie selbstsüchtig und feige er in Wirklichkeit war.
    Carla sprach viel mit Beck, bevor er entlassen wurde. Sie wollte wissen, was für ein Mann er war. Nachdem er sich erholt hatte, äußerte er sich nie mehr defätistisch über den Krieg. Carla fand heraus, dass Beck ein Berufssoldat war. Seine Frau war tot, und seine verheiratete Tochter lebte in Buenos Aires. Sein Vater war Stadtrat in Berlin gewesen. Beck wollte allerdings nicht

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