Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
dir gar nicht sagen …«, begann er, fand aber nicht die Worte, ihr zu erklären, wie viel es ihm bedeutete.
»Dann lass es«, erwiderte sie. »Ich weiß es sowieso. Ich habe es gespürt.«
Sie gingen zu dem Haus, in dem sie wohnte. An der Tür fragte Woody: »Können wir …«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Geh und gewinn den Krieg«, sagte sie.
Dann verschwand sie im Haus.
Wenn Daisy einen Gottesdienst besuchte, was nicht oft der Fall war, mied sie die elitären Kirchen im Westend, deren Gemeindemitglieder sie geschnitten hatten. Stattdessen fuhr sie mit der U-Bahn nach Aldgate und besuchte die Calvary Gospel Hall. Die Unterschiede in den Glaubensgrundsätzen waren gewaltig, aber das machte ihr nichts. Hier sang man besser als im Westend.
Lloyd und Daisy trafen einzeln ein: Die Leute in Aldgate wussten, wer sie war, und es gefiel ihnen, dass eine abtrünnige Adlige auf einem ihrer billigen Plätze saß, aber es hätte ihre Toleranz allzu sehr strapaziert, wäre eine verheiratete, von ihrem Mann getrennt lebende Frau am Arm ihres Liebhabers ins Gotteshaus gekommen. Ethels Bruder Billy sagte dazu: »Jesus hat die Ehebrecherin nicht verdammt, aber er hat ihr auch befohlen, nicht weiter zu sündigen.«
Während des Gottesdienstes dachte Daisy an Boy. Hatte er seine versöhnlichen Worte ernst gemeint, oder hatte es nur am Alkohol gelegen? Er hatte Lloyd sogar zum Abschied die Hand gereicht. Das musste doch Vergebung zu bedeuten haben? Doch Daisy wusste, dass sie ihre Hoffnungen nicht zu hochschrauben durfte. Boy war der eigensüchtigste Mensch, den sie je gekannt hatte; darin übertraf er sogar seinen Vater oder ihren Bruder Greg.
Nach der Kirche ging sie oft zum Mittagessen zu Eth Leckwith, doch heute überließ sie Lloyd seiner Familie, fuhr ins Westend zurück und klopfte in Mayfair an die Haustür ihres Ehemannes. Der Butler führte sie in den Morgensalon.
Boy kam wütend ins Zimmer gestürmt. »Was soll das?«, rief er und warf die Zeitung nach ihr.
In dieser Stimmung hatte Daisy ihn oft erlebt; deshalb hielt ihre Angst sich in Grenzen. Nur einmal hatte Boy die Hand gegen sie erheben wollen, aber da hatte sie einen schweren Kerzenleuchtergepackt und gedroht, ihm den Schädel einzuschlagen. Danach war Boy nie wieder auf sie losgegangen.
Dennoch war sie enttäuscht. Gestern Nacht war Boy so guter Laune gewesen. Aber vielleicht hörte er trotzdem auf die Stimme der Vernunft.
»Warum bist du so wütend?«, fragte sie ruhig. »Was ist passiert?«
»Wirf mal einen Blick in die Zeitung.«
Daisy bückte sich und hob sie auf. Es war die aktuelle Ausgabe des Sunday Mirror , einer populären linkslastigen Boulevardzeitung. Auf der Titelseite prangte ein Foto von Boys neuem Rennpferd; darunter stand die Schlagzeile:
LUCKY LADDIE
Wert: 28 Bergarbeiter
Nachdem gestern in der Presse über Boys Rekordkauf berichtet worden war, griff der Mirror das Thema heute noch einmal auf, allerdings nicht als Meldung, sondern als zornigen Kommentar, in dem herausgestellt wurde, dass der Preis für das Pferd, 8400 Pfund, genau dem Achtundzwanzigfachen der 300 Pfund Entschädigung entsprach, die die Witwe eines Bergmanns erhielt, der bei einem Grubenunglück ums Leben kam.
Und der Reichtum der Familie Fitzherbert stammte aus dem Kohlenbergbau.
»Mein Vater ist außer sich!«, schimpfte Boy. »Er hatte gehofft, Außenminister in der Nachkriegsregierung zu werden. Dieser Artikel hat seine Chancen vermutlich ruiniert.«
»Und was habe ich damit zu tun?«, entgegnete Daisy aufgebracht. »Ist das etwa meine Schuld?«
»Sieh dir an, wer der Zeitungsschmierer ist, der das geschrieben hat!«
Daisy las:
von Billy Williams
Parlamentsabgeordneter für Aberowen
»Der Onkel deines Freundes!«, rief Boy.
»Glaubst du, er berät sich mit mir, ehe er seine Artikel schreibt?«
Boy wackelte mit dem Finger. »Aus irgendeinem Grund hasst uns diese Familie.«
»Sie finden es ungerecht, dass ihr euch mit den Kohlenbergwerken eine goldene Nase verdient, während die Bergleute ausgenommen werden. Wir haben Krieg, weißt du?«
»Du lebst selbst von geerbtem Geld«, erwiderte Boy. »Und gestern Nacht in deiner Wohnung habe ich nichts von kriegsbedingter Bescheidenheit sehen können.«
»Das stimmt. Aber ich habe eine Party für Soldaten gegeben, während du ein Vermögen für ein Pferd verschleudert hast.«
»Es ist mein Geld!«
»Aber du hast es aus den Kohlegruben.«
»Verbringst du mit diesem Williams so viel Zeit,
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